EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Des Pfarrers Lust
Felix Leibrock steht vor einer Hütte in den Bergen um Ruhpolding, er steht auf einer Wiese, Kühe grasen ein paar Almen tiefer, ihr Glockengeläut dringt herauf. Nicht weit von hier, auf der Winklmoosalm, wuchs Rosi Mittermaier auf. Im Sommer, im Herbst wandern hier Touristen.
Für vier Wochen ist Leibrock, evangelisch, als Urlauberpfarrer in Oberbayern, er predigt den Touristen. Er steht vor einem selbstgebastelten Kreuz, er trägt einen schwarzen Talar, an den Füßen, wie es sich gehört, Sportsocken und Wanderschuhe.
Um elf Uhr beginnt sein Berggottesdienst. Pfarrer Leibrocks Thema an diesem Morgen: wie es ist, vor einem Gipfel zu stehen, die Furcht, ihn nicht zu bezwingen, das Glücksgefühl danach.
Touristen und Einheimische sitzen vor Leibrock auf Bierbänken, sie haben sich auf Wanderstöcke gestützt und lauschen seinen Worten. Zuletzt senkt Leibrock die Stimme, er erzählt von einer Wette, die er in seiner Gemeinde in Apolda bei Weimar geschlossen hatte, mehr schon eine Mission als eine Wette; und es scheint, als berichte er von einem Versagen, als schäme er sich. Die Touristen lachen, sie schütteln den Kopf, manche haben Mitleid. Ist halt ein Flachländer, sagen sie. Armer Kerl. Er wusste ja nicht, was er tat.
Einerseits ist das sicher richtig. Doch wenn Leibrock versagte, gab es immer noch Gott.
Leibrock, 49 Jahre alt, stattlich, schnauzbärtig, gebürtiger Saarländer, hatte eine Wette abgeschlossen: Ihr spendet 10 000 Euro, und ich laufe zu Fuß nach Worms zum Luther-Denkmal, 425 Kilometer in sieben Tagen, das zieh ich durch, ich kann nicht anders. 7000 Euro waren zusammengekommen, Leibrock stieg in die erstbesten Schuhe, er wusste ja nicht, was er tat.
Aber wenigstens, wofür. Für die Sanierung der Kirche und für Fatima, ein Mädchen aus Beslan, zehn Jahre alt. Beslan in Russland, die Stadt des Massakers 2004. Damals saß Fatima in der Schule Nummer eins, daneben ihre Schwester, die Schwester wurde erschossen. Seit damals hat Fatima Granatsplitter im Kopf, sie kann nicht mehr laufen und muss dringend operiert werden.
Während der Geiselnahme in Beslan brannte in Weimar die Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Damals war Leibrock Kulturdirektor in Weimar, er rief ein paar Sportvereine an und bestellte starke Männer, damit sie die kostbaren Bücher retteten. Das war mehr als pfiffig, es war ein kleines Wunder. Für Fatima wollte er wieder ein solches Wunder vollbringen, wandernd. In Worms, Leibrocks Ziel, stand seinerzeit Luther vor Kaiser Karl V. und weigerte sich, seine Lehren zu widerrufen, es war das Jahr 1521.
Mit seiner Wanderung wollte Leibrock, ähnlich entschlossen, Fatima retten und auch die Gemeinde aufrütteln. Es ging um geistige Reformen für Apolda. Die Stadt war mal wohlhabend, jetzt gibt es Arbeitslose und Resignation. Er wollte dagegen anlaufen, habt Mut, wollte er sagen.
Protestanten haben keinen Pilgerweg nach Rom, kein Santiago de Compostela, man muss sich etwas einfallen lassen.
Den ersten Tag bewältigte er locker, 15 Kilometer nach Weimar, er brauchte vier Stunden, das Wandern war des Pfarrers Lust, am Anfang jedenfalls. Am zweiten Tag stand er um fünf Uhr auf, Etappenziel 75 Kilometer, eigentlich nicht zu schaffen für einen unerfahrenen Wanderer.
Im Thüringer Wald taten ihm die Füße weh. Radiosender riefen an, wollten live berichten. »Der Pfarrer kann nicht mehr«, sagte der Pfarrer und fiel ins Bett.
Blasen hatten sich gebildet, am nächsten Morgen kam Leibrock kaum aus dem Bett, jeder Schritt ein stechender Schmerz, er lag jetzt deutlich hinter der Zeit. Er hat Fotos gemacht damals, er zeigt sie in Ruhpolding auf der Alm: geschwollene Füße mit blutunterlaufenen Wunden an den Ballen.
Am dritten Tag verrutschten seine Pflaster, nachts fand er kein Quartier.
Am vierten Tag kam die Versuchung. Maria, eine Wirtin im Auto, sagte, steigen Sie ein, ich nehme Sie ein Stück mit, wird schon keiner merken. Gott merkt alles, dachte Leibrock und widerstand. »Bild«-Dresden rief an, Gemeindemitglieder simsten ihm Mut zu, die Schmerzen wurden unerträglich. Südrhön, Spessart, die Wälder nahmen kein Ende, kein Wegweiser, bald würde es dunkel werden, das Handy versagte. Leibrock hatte sich verlaufen, fluchend irrte er über Waldwege, irgendwann sah er einen Fluss, eine Siedlung, die Rettung.
Am fünften Tag: höllische Qualen, die Wunden eiterten, Leibrock dachte daran aufzugeben.
Er humpelte ins Städtische Krankenhaus in Wertheim am Main. Krallte sich ins Krankenbett, der Unfallchirurg bohrte in den Wunden, sein Befund: infizierte Fußulzera, massive Blasenbildung, Gefahr einer Blutvergiftung. Der Arzt verbot dem Pfarrer weiterzuwandern. Wie, dachte der, würde er dastehen vor seiner Gemeinde, ein Pfarrer, dem niemand mehr glaubt? Er hatte eine letzte Chance, er bat den Arzt um ein Fahrrad. 120 Kilometer lagen noch vor ihm, Rad fahren war wie fliegen, und Gott würde Verständnis haben. Die letzten hundert Meter schleppte er sich zu Fuß, der Ehre wegen.
Am Luther-Denkmal, er erzählt es verlegen auf der Alm bei Ruhpolding, brach er in Tränen aus. Einige Bürger aus Apolda standen Spalier, sie hatten Mitleid mit ihrem Pfarrer, Schmerzen müssen sich lohnen, fanden sie - und legten noch ein paar tausend Euro Spenden drauf, es reichte für Fatimas Operation. Hier stand er nun, er konnte auch anders. Er stieg in eine Cessna, der Flug zurück dauerte anderthalb Stunden. FIONA EHLERS