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MENSCHENRECHTE Die bourgeoise Kriegerin

Eine Frau gegen eine Weltmacht: Rebiya Kadeer kämpft darum, die chinesische Führung vor ein internationales Menschenrechtstribunal zu bringen. Ihr Vorwurf: Das Regime unterdrückt die Uiguren, eine muslimische Minderheit im Nordwesten des Landes. Von Hauke Goos
aus DER SPIEGEL 47/2005

Ablikim läuft durch die Stadt, in der er aufgewachsen ist, und sucht einen Ort, wo er über seine Mutter reden kann. Er will nicht, dass jemand mithört. Ablikim ist der Sohn von Rebiya Kadeer, Chinas berühmtester Dissidentin.

Es ist inzwischen später Nachmittag, aus den nahen Bergen schwebt die Kälte herunter. Ablikim hatte sich zunächst für einen Schnellimbiss entschieden, dann für ein Museum; überall fühlte er sich beobachtet.

Am Vormittag hatte er einen Freund angerufen, auf dem Handy, er bat ihn, als Übersetzer einzuspringen. Die Polizei würde die Telefone abhören, sagte der Freund. »Sie werden meine Eltern verhaften, meine Geschwister schikanieren. Niemand wird uns helfen.«

Die meisten Uiguren seien »chickenhearted«, sagt Ablikim, hasenherzig.

Das Restaurant, das er schließlich ansteuert, hat noch nicht geöffnet, die Heizung ist abgeschaltet, nur wenige Lampen brennen. Es gehört seiner Familie. In einer Vitrine schimmert ein Stück rohes Fleisch. Die Wände sind halbhoch getäfelt, es sieht aus, als hätte jemand versucht, die Kantine einer rumänischen Parteischule gemütlich einzurichten.

Ablikim isst nichts. Ramadan, sagt er. Er bestellt eine Tasse Tee, als ein Mann hereinkommt: grauer Anzug, dunkelblauer Rollkragenpullover, etwa 50 Jahre alt.

Der Mann blickt sich um. Alle Plätze sind frei. Dann setzt er sich zwei Tische weiter.

Ablikim rückt seinen Stuhl näher heran. »Geheimdienst«, flüstert er.

Der Mann hat Ablikim den Rücken zugewendet, es sieht aus, als würde er die Speisekarte studieren. Es ist ganz still.

Vor kurzem habe die Polizei eine Spezialeinheit gegründet, sagt Ablikim, das »Büro 307«. Er spricht jetzt so leise, dass man ihn kaum verstehen kann. Die einzige Aufgabe von »Büro 307« bestehe darin, seine Familie zu überwachen.

Ablikim trägt seine schwarzen Haare kurz, er ist glatt rasiert, er hat eine olivfarbene Hose an und eine amerikanische Fleecejacke, wahrscheinlich die einzige in ganz Ürümqi. Es dürfte nicht allzu schwer sein, ihm zu folgen. Als er aufsteht, erhebt sich der Mann mit dem Rollkragenpullover

ebenfalls. Er tritt auf die Straße, geht einige Schritte, dreht sich ein paarmal um. Dann wartet er.

Ablikim winkt ein Taxi heran. Er will das Gefängnis zeigen, in dem seine Mutter inhaftiert war.

Auf einer dreispurigen Schnellstraße geht es in die Außenbezirke von Ürümqi: heruntergewohnte Plattenbauten, verlassene Häuser ohne Fensterscheiben, Industriebrachen. Am Straßenrand verkaufen Krüppel Waschmittel und Weintrauben. Zweieinhalb Millionen Menschen leben in Ürümqi, Chinesen und Uiguren, alle Straßenschilder sind zweisprachig, Arabisch und Chinesisch. Kasachstan ist nur ein paar Autostunden entfernt, weiter östlich beginnt die Mongolei, bis Peking sind es 2400 Kilometer. Im Winter fällt die Temperatur bis auf minus 40 Grad Celsius.

Hinter dem Taxi fährt in einigem Abstand ein dunkelblauer VW Santana mit getönten Scheiben.

Ablikim weist die Fahrerin an, auf einen Feldweg einzubiegen, dann soll sie wenden und denselben Weg zurück nehmen. Der Santana rumpelt in einem Abstand von 150 Metern hinterher.

Am Abend holen Polizisten Ablikim zum Verhör. Sie befragen ihn fünf Stunden lang, dann lassen sie ihn laufen.

14 000 Kilometer entfernt, auf der anderen Seite der Erde, sitzt Rebiya Kadeer in einer kleinen Parterrewohnung in Vienna, Virginia. Es ist ein warmer Spätsommermorgen im Osten der USA, die Terrassentür steht offen. Rebiya Kadeer, Ablikims Mutter, trägt ein schwarzes Kostüm und einen weißen Schal, ihre Stimme klingt ein wenig heiser. In ihrem Bücherregal liegt der Koran, daneben stehen Videokassetten: »Gladiator«, »Titanic«.

An diesem Morgen will sie nach Washington fahren, um Tom Lantos zu treffen, den mächtigen demokratischen Kongressabgeordneten aus Kalifornien. Lantos leitet den Ausschuss für Menschenrechte, er hat sich für ihre Freilassung aus dem Gefängnis eingesetzt, jetzt soll er helfen, Ablikim und ihre anderen Kinder zu schützen.

In Lantos' Büro hängt ein Foto, das einen Mann in einem weißen Hemd zeigt. Er steht mit ausgebreiteten Armen vor einem Panzer, aufgenommen 1989 auf dem Tiananmen-Platz. Lantos hat an diesem Tag keine Zeit. Stattdessen empfängt Hans Hogrefe sie, sein Büroleiter. Er sieht blass aus, wahrscheinlich kommt er zu wenig an die Luft, es gibt so viele Volksgruppen auf der Welt, die verfolgt werden. Für Re- biya Kadeer hat Hogrefe 20 Minuten eingeplant.

»Ist die gegenwärtige Lage qualitativ neu?«, will er wissen.

Bisher gab es immerhin Vorwürfe, Anklagen, antwortet Rebiya Kadeer. »Jetzt holt man die Leute einfach von der Straße und sperrt sie ein.«

Er sei von ihrer Haltung beeindruckt, sagt Hogrefe, er hat sich bereits wieder erhoben. »Unsere Tür steht Ihnen immer offen.«

»Hans is a good man«, sagt Rebiya Kadeer draußen. Sie strahlt.

Vor einem halben Jahr ist sie in der amerikanischen Hauptstadt eingetroffen. Als die Chinesen sie im März aus dem Gefängnis freiließen, nach fünfeinhalb Jahren Haft, machten die Regierungsleute Rebiya Kadeer ein Angebot: Wenn sie aufhöre, gegen die Regierung zu hetzen, könne sie eine der reichsten Frauen Chinas werden.

Und andernfalls?

Andernfalls solle sie stets daran denken, dass sie in Ürümqi ihr Geschäft zurücklasse und ihre Familie.

Rebiya flog mit der nächsten Maschine in die Vereinigten Staaten, vier ihrer Söhne und eine Tochter blieben in Ürümqi zurück. Die chinesische Regierung hat die Pässe der Kinder eingezogen, sie zu Geiseln ihrer Politik gemacht. Rebiya Kadeer weiß, dass sie ihre Kinder möglicherweise nicht wiedersehen wird, aber sie ist davon überzeugt, keine Wahl zu haben: Die Haft hat aus ihr eine Symbolfigur gemacht.

Sie will den unterdrückten Uiguren helfen, sie will die chinesische Regierung vor ein internationales Menschenrechtstribunal bringen. Eine Frau gegen China, die Mutter von elf Kindern gegen eines der mächtigsten Länder der Erde.

Ihre Familie kämpft gegen ein Regime, das seine Gegner verfolgt, foltert, tötet. Jedes Jahr werden in China mehr Menschen hingerichtet als in allen anderen Ländern zusammen.

Hat sie Angst um ihre Kinder?

Sie sei in Sorge, sagt Rebiya Kadeer, Angst habe sie nicht. Sie weiß, wie die Lage in ihrer Heimat ist, ihr viertältester Sohn Alim berichtet es ihr jeden Abend am Telefon.

Sie sitzt jetzt in einem griechischen Restaurant in Vienna, ein paar Straßen von ihrem neuen Zuhause entfernt, sie will erzählen, was die Chinesen ihrer Familie angetan haben.

Rebiya Kadeer war ein Jahr alt, als Mao die Volksrepublik China ausrief. Er wollte mit den Völkern Chinas eine neue Heimat errichten.

Rebiyas Eltern bewirtschafteten damals einen kleinen Bauernhof, und sie besaßen einen Friseursalon, ein Restaurant, ein türkisches Bad. Nach kommunistischem Verständnis zählten sie damit zur Bourgeoisie. Außerdem waren sie Uiguren, Angehörige eine Minderheit, die sich zu den Turkvölkern

rechnet. Die Uiguren sind mehrheitlich Muslime, Allah ist groß, größer noch als Mao, stolz verwiesen sie auf ihre jahrtausendealte Geschichte. Sie wollten keine neue Heimat. Stattdessen träumten sie davon, eines Tages ihren eigenen Staat zu bekommen: Ostturkestan.

Als die Kommunisten 1955 die Uigurische Autonome Provinz Xinjiang gründeten, über 1,6 Millionen Quadratkilometer groß, reich an Erdöl und Erdgas, Eisenerz und Uran, beschlagnahmten sie den Besitz ihrer Eltern und zwangen die Familie, aus Rebiyas Geburtsstadt Altay im Norden in den Süden umzusiedeln, in das Tarim-Becken, am Rand der Wüste.

Sie war 14 Jahre alt, erzählt sie, als ein Mann um ihre Hand anhielt, Vizedirektor einer kleinen Bank, zwölf Jahre älter als sie. Er versprach, für sie zu sorgen. Rebiya akzeptierte.

Ein Jahr später heirateten sie, mit 17 gebar Rebiya ihr erstes Kind. Während eines Krankenhausaufenthalts teilte sie das Zimmer mit einer Frau, die sich über ihren uigurischen Mann beklagte: Er denke nie an sie, nur an sein Volk, jetzt sitze er im Gefängnis.

Rebiya Kadeer bot der Frau ihre Hilfe an. Der Opfermut des fremden Mannes beeindruckte sie.

An diesem Punkt ihrer Erzählung hält Rebiya Kadeer inne, lässt sich einen Tee kommen und ein Stück Erdbeerkuchen. Sie sagt: »Ich will eine Geschichte erzählen, die wie ein Märchen klingt«; es ist eine Geschichte, die alles erklären soll: ihren Kampf, ihre Entschlossenheit, ihre Zuversicht.

Ihr ganzes Leben.

Mit 28 Jahren sei ihre erste Ehe zerbrochen, also 1976, weil sie sich kritisch über die Regierung in Peking geäußert habe und ihr Mann den einsetzenden Druck nicht mehr aushielt.

Nach der Scheidung habe sie eine Liste zusammengestellt, sagt Rebiya Kadeer, zehn Bedingungen, die ihr zukünftiger Ehemann erfüllen sollte: Es musste, für beide, Liebe auf den ersten Blick sein; er musste für seine Überzeugung im Gefängnis gewesen sein; dort durfte er niemanden verraten haben. Und er musste bereit sein, für die Freiheit ihres Landes zu kämpfen.

Kurz darauf bekam sie Besuch von einem Freund. Es gebe jemanden, der ihre Anforderungen erfülle, sagte der. »Aber er ist arm. Er kann deine Kinder nicht ernähren. Stehst du zu deinen Bedingungen?«

»Wo ist er?«, fragte Rebiya.

Sie flog nach Artux, eine kleine Stadt im Westen der Provinz; als sie erfuhr, dass der Mann in einem Dorf lebt, ritt sie auf einem Esel weiter. Als sie endlich vor ihm stand, verliebte sie sich auf den ersten Blick. »Mein Name ist Rebiya Kadeer«, sagte sie. »Ich bin 29 Jahre alt. Ich bin gekommen, um dich zu heiraten. Von meinen zehn Bedingungen sind neun erfüllt. Offen ist eine einzige: Liebst du mich?«

Der Fremde bat sie, ihre Geschichte zu erzählen. Er war vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen worden, misstrauisch betrachtete er sie. Als sie fertig war, fragte er, ob sie eine Agentin der chinesischen Regierung sei.

Rebiya ohrfeigte ihn und und ritt davon.

Sie lacht, als sie diese Geschichte erzählt.

Sechs Monate später überbrachte ihr der Freund ein Buch: 260 Gedichte über Rebiya Kadeer, verfasst von dem Unbekannten, den sie geohrfeigt hatte. Er war jener Ehemann, über den sich Rebiyas Zimmergefährtin im Krankenhaus beklagt hatte, das Paar hatte sich inzwischen getrennt. Im Jahr 1977 heirateten der Dichter und die Rebellin.

Rebiya Kadeer eröffnete in Ürümqi einen Waschsalon, verkaufte Obst, Gemüse und Lederwaren, trieb Handel bis nach Kasachstan hinein. Sie wusste, dass man einen Kampf nur durchhalten kann, wenn man nicht völlig mittellos ist. Sie errichtete ein Kaufhaus, wenig später ein zweites, sie vermietete Ladenflächen an Händler; so wurde sie reich.

Bald rückte sie an die Spitze der Handelskammer, zuerst in Ürümqi, dann in Xinjiang.

1992 war die Unternehmerin Rebiya Kadeer so angesehen in China, dass sie in den Nationalen Volkskongress gewählt wurde.

1997 fühlt sie sich so stark, dass sie das Regime herausfordert. Sie soll eine Rede halten, vor dem Volkskongress, es ist die Gelegenheit, die sie seit Jahren herbeigesehnt hat.

Bei der Parteiführung reicht sie eine Kopie der Rede ein, sie wolle aufzählen, sagt sie, was die Chinesen für die Uiguren getan hätten. Die Funktionäre sind erleichtert: Sie soll zu Beginn des Kongresses sprechen,

gleich nach dem Staats- und Parteichef und dem Vorsitzenden des Politbüros.

Einen Tag vor dem Kongress trifft Rebiya Kadeer sich heimlich mit den beiden Dolmetschern, die ihre Rede ins Chinesische übersetzen sollen. Ihnen zeigt sie den Text, den sie tatsächlich vortragen will. Die beiden fürchten sich. »Ich bin eine Frau«, sagt sie, »und ihr seid Männer. Ihr werdet keine Schwierigkeiten bekommen, schließlich übersetzt ihr nur, was ich sage.«

Die chinesische Politik in Xinjiang sei falsch und ungerecht, sagt sie vor dem Kongress, in der Großen Halle des Volkes. 4800 Abgeordnete lauschen. Die chinesische Regierung müsse die religiöse Freiheit der Uiguren respektieren, die willkürlichen Verhaftungen stoppen, aufhören mit der Hinrichtung von politischen Gefangenen. Sie fordert Respekt vor der uigurischen Geschichte, der Literatur, der Sprache. Rebiya Kadeer trägt an diesem Tag eine weiße Pelzjacke und eine »Doppa«, die traditionelle Kopfbedeckung der Uiguren. Als sie an ihren Platz zurückgeht, weinen einige Abgeordnete.

Die Rede ist eine Kriegserklärung.

Rebiya Kadeer hat ein Foto aufbewahrt, entstanden unmittelbar nach ihrer Rede. Jiang Zemin, der damalige Staats- und Parteichef, ist darauf zu erkennen, er schüttelt ihre Hand, er lächelt; um ihn herum stehen die anderen Mächtigen Chinas, Ministerpräsident Li Peng, der Verteidigungsminister, eine Armee aus alten Männern mit Hornbrillen und dunklen Anzügen, die eine kleine, zierliche Frau in einer weißen Pelzjacke umringen wie Raubtiere.

Es scheint, als wollten sie Rebiya Kadeer gratulieren, tatsächlich aber schirmen sie sie ab, gegen die Abgeordneten, gegen Fragen.

Im Hintergrund des Fotos ist Hu Jintao zu erkennen, damals Nummer fünf in der Hierarchie, heute der Staatschef. »Eine sehr gute Rede«, sagt Hu zu ihr. »Aber du musst deine Probleme mit uns besprechen. Wir können alle Probleme lösen.«

»Normalerweise muss man nach einer Rede zu ihnen kommen«, sagt Rebiya Kadeer. »Sie kamen zu mir, weil ich Recht hatte.«

Vier Wochen später wird sie aus dem Volkskongress ausgeschlossen, ihr Pass eingezogen.

Als sie sich im August 1999 mit einer Delegation des amerikanischen Kongresses treffen will, in einem Hotel in Ürümqi, nimmt die Polizei sie fest.

Der Richter verurteilt sie zu acht Jahren Gefängnis, wegen der »Weiterverbreitung von Staatsgeheimnissen«. Sie hat ihrem Mann, der inzwischen ins amerikanische Exil geflohen war, Zeitschriften schicken wollen - Zeitschriften, die jeder überall kaufen kann.

Es ist ein Prozess ohne Verteidiger, ohne Zuschauer. »Wir werden dich zertreten

wie eine Schlange«, sagt der Polizeichef zu ihr.

»Ich komme aus dem Gefängnis wie ein Adler«, antwortet Rebiya Kadeer.

Im Gefängnis sind Bücher verboten, zwei Jahre lang darf niemand sie besuchen. Sie spricht mit sich selbst, rezitiert Koranstellen, macht Pläne. Manchmal schreit sie.

Ablikim, der fünftälteste Sohn, wurde am selben Tag festgenommen wie seine Mutter, sie verurteilten ihn zu zwei Jahren Arbeitslager, ohne Prozess. Er musste 20 Stunden am Tag arbeiten, ein paarmal wurde er Zeuge, wie Wachleute andere Gefangene mit einem Baseballschläger verprügelten. Er weiß, dass Gefangene in China mit Elektroschocks gequält werden, dass die Polizei Männer foltert, indem sie Pferdehaare in deren Penis einführt.

Seit Kadeer in Washington lebt, kümmern sich ihre Söhne um die beiden Kaufhäuser. Sie stehen in einem Viertel, in dem fast nur Uiguren leben, auf der Straße bieten Händler von zweirädrigen Karren Datteln und Granatäpfel an, Hundepelze und getrocknete Schlangen, als Aphrodisiakum.

Für den Bau hat die Familie einen Kredit aufnehmen müssen, neun Millionen Yuan. Nachdem die Polizei bei einer Durchsuchung im Frühjahr sämtliche Geschäftsunterlagen mitnahm, waren es auf einmal 15 Millionen.

Ohne ihr politisches Engagement wäre Rebiya Kadeers Lebensgeschichte eine der vielen Erfolgsstorys des neuen China gewesen; aber sie wurde zur Spielverderberin.

Die Uiguren in Xinjiang bewundern sie, sie nennen sie »Mutter der Uiguren«, aber sie folgen ihr nicht, jedenfalls nicht offen.

Ende August - Rebiya Kadeer war gerade von einem Deutschland-Besuch in die USA zurückgekehrt - beschuldigte sie der KP-Chef von Xinjiang während einer Pressekonferenz: Sie habe sich in Deutschland mit Terroristen getroffen, sie wolle die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Gründung der Uigurischen Autonomen Provinz Xinjiang sabotieren. Rebiyas Sohn Alim nannte den KP-Chef daraufhin in einem Interview für »Radio Free Asia« einen Lügner.

Am Abend nach dem Interview klingelte die Polizei bei Alim, als er gerade mit seiner Mutter in Washington telefonierte. Alim legte den Hörer neben das Telefon, so hörte sie alles mit.

Er solle unterschreiben, dass Rebiya Kadeer dem chinesischen Staat Steuern schulde, forderten sie. Als er sich weigerte, drohten sie, ihn zu bestrafen. »Du wirst sehen, was wir mit dir machen.«

Alim und Ablikim würden China am liebsten verlassen, sie könnten versuchen, sich nach Taiwan durchzuschlagen, aber Rebiya Kadeer will nicht, dass ihre Kinder aus China fliehen. Sie hofft auf eine legale Lösung, immer noch. Es ist nur nicht ganz klar, was sie der Regierung in Peking anbieten könnte.

Ihr Problem ist, dass sie die Lage ihrer Söhne mit jedem Auftritt schwieriger macht. Aber sie glaubt, dass ihre Kinder nur dann sicher in Ürümqi leben können, wenn die Welt mehr über sie weiß.

Während sie in Vorträgen und bei Diskussionsrunden ihre Vision beschreibt, sitzt ihr Mann, der Dichter, draußen auf der Terrasse ihrer kleinen Wohnung in Virginia und raucht dünne chinesische Zigaretten. Sein Händedruck ist weich, er trägt das weiße Haar zurückgekämmt, in den fünf Jahren ihrer Haft sei er um zehn Jahre gealtert, sagt er. Sie sind sich noch immer einig über das Ziel, aber sie streiten sich über den Weg.

Jahrelang war er der Unversöhnlichere von beiden, das machte ihn einflussreich. Seit Rebiya Kadeer wieder in Freiheit ist, hat sich das gedreht. Während sie unterwegs ist, sitzt er zu Hause und schreibt an einer uigurischen Nationalgeschichte, sie soll erscheinen, wenn das Land eines Tages unabhängig ist. Bis heute hat er noch nicht einmal einen Verleger.

Als der chinesische Staatschef Hu Jintao seinen Besuch in Washington ankündigte, sah Rebiya Kadeer die Gelegenheit gekommen, ihn an das Leiden ihres Volkes zu erinnern. Hu wollte Anfang September mit Präsident Bush über Nordkorea sprechen und über Chinas boomende Exportwirtschaft, Rebiya Kadeer wollte die Opfer der chinesischen Politik versammeln; sie würden Hu mit einer Demonstration empfangen, den drittmächtigsten Mann der Welt, direkt gegenüber dem Weißen Haus.

Rebiya Kadeer sollte eine Rede halten, es sollte eine Rede an Amerika werden. Dann überflutete der Hurrikan »Katrina« New Orleans, und Hu sagte seinen Besuch in der Hauptstadt kurzfristig wieder ab.

Rebiya Kadeer reiste ihm nach New York nach, wo er ein paar Tage später die Vereinten Nationen besuchen sollte. Zusammen mit Exil-Tibetern und Mitgliedern der verfolgten Sekte Falun Gong stand sie vor dem Uno-Gebäude.

Die Demonstranten schwenkten amerikanische Flaggen und die Farben von Ostturkestan, Rebiya Kadeer hielt sich an einem Plakat fest, auf dem »Freedom for East Turkestan« stand.

Sie ist sich nicht sicher, ob Hu sie bemerkt hat.

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