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ZEITGESCHICHTE Die deutsche Maschine

Ein Berliner Fraunhofer-Institut entwickelt im Auftrag des Bundestages einen Automaten, der zerrissene Stasi-Akten zusammensetzen kann. Vielleicht. Wenn es nicht klappt, wird der letzte IM der Staatssicherheit in etwa 700 Jahren manuell enttarnt. Von Alexander Osang
aus DER SPIEGEL 32/2008

Ein- bis zweimal im Jahr fährt ein kleiner Lieferwagen in Magdeburg-Sudenburg vor, wo man einen DDR-»Polizeiruf« der achtziger Jahre drehen könnte, ohne einen Stein zu verrücken, lädt drei bis vier atmungsaktive Papiersäcke auf und fährt sie quer durch die Republik nach Zirndorf bei Nürnberg, wo man eine »Derrick«-Episode der achtziger Jahre drehen könnte, ohne einen Stein zu verrücken. In den Säcken befinden sich Akten, die Mitarbeiter der Staatssicherheit 1989 in ihren letzten Dienststunden mit bloßen Händen zerrissen, vier- bis zwölfmal pro DIN-A4-Seite, weil ihre Schreddermaschinen heißgelaufen waren.

Es ist eine Reise, zu der eigentlich nur deutsche Säcke aufbrechen. Sie hat lange vor Magdeburg begonnen und wird - wie es aussieht - auch nicht in Zirndorf enden, wo Georg Schleyer und seine Kollegen die Säcke öffnen.

Schleyer gehört zu den 50 Mitarbeitern des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, aus denen die Projektgruppe Zirndorf 1995 geformt wurde. Die Boten, Kraftfahrer, Sekretärinnen und Sachbearbeiter wurden frei, nachdem das deutsche Asylrecht verändert wurde. Sie kümmern sich seitdem nicht mehr um Asylbewerber, sondern puzzeln im Auftrag der Birthler-Behörde in 41-Stunden-Wochen mit Gleitarbeitszeit Stasi-Schnipsel zusammen. Im Schnitt braucht ein Sachbearbeiter ein Jahr für einen Sack. 434 Säcke haben sie so in den letzten 13 Jahren geleert, zu knapp 900 000 Aktenseiten zusammengefügt und nach Berlin geschickt. Irgendjemand hat ausgerechnet, dass die Schnipsel aus den insgesamt 16 000 Säcken, die in Magdeburg warten, zu etwa 45 Millionen Seiten zusammengesetzt werden könnten, was eine sechs Kilometer lange Aktenschlange ergäbe, die man dem bereits 173 Kilometer langen Stasi-Archiv hinzufügen könnte.

Der Ausstoß der Zirndorfer Projektgruppe ließ zuletzt nach, weil Mitarbeiter, die in Ruhestand gingen, nicht ersetzt wurden. Momentan arbeiten hier noch neun Leute, und heute Morgen sind nur Ernst Schrödinger und Georg Schleyer da. Alle anderen sind krank oder im Urlaub. Schrödinger und Schleyer beenden gerade die Arbeit an einem Sack aus der ehemaligen Bezirksverwaltung Frankfurt (Oder), der zur Hälfte mit der Akte eines IM »Maik« gefüllt war.

»Schlimmer Finger«, sagt Schrödinger.

Jetzt machen sie eine Pause, weil gerade Andreas Petter aus Berlin eingetroffen ist, der die Projektgruppe »Manuelle Rekonstruktion« von der Zentrale der Stasi-Unterlagen-Behörde aus leitet.

Petter ist 35 Jahre alt, trägt eine randlose Brille, gutgewachsene Koteletten, seine Hände sind ein bisschen zerkratzt, weil seine Katze heute Nacht verrückt gespielt hat, in Berlin-Schöneberg, wo er wohnt. Er stammt aus Torgau, hat in Halle an der Saale Geschichte studiert, in London gelebt, als Referendar im Bundesarchiv gearbeitet, bevor er als Projektleiter Manuelle Rekonstruktion bei der Stasi-Unterlagen-Behörde anfing. Er hat sich aus dem Osten heraus in die Welt bewegt und ist nun wieder zurück. Dabei ist er zu der Überzeugung gelangt, dass die Quelle in den letzten Jahren unterbewertet wurde. Es gab zu viele Auseinandersetzungen mit Meinungen über Geschichte und zu wenige mit den Quellen, sagt Petter. Er soll Zirndorf näher an Berlin binden. Er erwähnt Foucault, Geschichtsschreibung als Maßnahme zur Festigung der Macht. Schrödinger und Schleyer starren durch ihn durch.

»Wir haben eine Parallelbewegung im Überlieferungsbereich«, sagt Petter.

»Kaffee?«, fragt Schleyer.

»Gern«, sagt Petter.

Georg Schleyer stellt einen Teller mit Keksen auf den Tisch und läuft dann langsam mit der Thermoskanne herum und schenkt ein. Wie Ernst Schrödinger stammt er aus Franken, er ist seit Anfang an bei der Projektgruppe, seit 1995. Er trägt ein blaues Jackett, das sehr eng wirkt, und eine Krawatte, die ihm der Landrat geschenkt hat, weil er sich ehrenamtlich um den Sportverein seines Dorfs kümmert. Schleyer hat rotrasierte Wangen und sieht aus wie ein Busfahrer. Schrödinger ist kleiner und drahtiger, er war früher mal Amateurboxer, Fliegengewicht, bevor er zur Bundeswehr ging und von da in die Poststelle des Bundesamts für die Anerkennung von Flüchtlingen. Er puzzelt jetzt seit acht Jahren Akten zusammen.

»Das Spezielle an den Stasi-Akten ist ja, dass lebendige Erinnerung mit schriftlicher Erinnerung konkurriert«, sagt Petter.

Das mag für ihn stimmen, aber bei den Sachbearbeitern in Zirndorf gibt es wenig lebendige Erinnerung. Schrödinger ist 1975 einmal zu den deutschen Boxmeisterschaften über die Transitautobahn nach West-Berlin gefahren, Schleyer hat am ungarischen Balaton einst einen Ostdeutschen kennengelernt, und ihr Kollege Heinz Lay, der gerade im Urlaub ist, hat bis heute nicht die Grenze überquert. Alles, was sie über das Land dort wissen, wissen sie aus den Akten. Die haben sich alle gegenseitig bewacht, sagt Schleyer. Man konnte niemandem trauen, nicht mal den Leuten in der eigenen Familie, erklärt Schrödinger, der gerade in IM »Maiks« Akte gelesen hat, dass auch dessen Lebensgefährtin bei der Stasi war.

»Die Leute waren doch völlig gestört«, sagt Georg Schleyer und erzählt die Geschichte seiner Balaton-Bekanntschaft, die irgendwann in seinem Dorf auftauchte. Schleyer war dabei, ihm einen Job zu besorgen, sogar der Pfarrer begrüßte den ostdeutschen Ankömmling in der Predigt, aber dann verschwand der Mann einfach, tauchte kurz in einer Dortmunder Laubenkolonie auf, redete wirres Zeug und ging schließlich wieder zurück in den Osten. Schleyer hat ihn da mal besucht, die Vorhänge waren zugezogen, alles ganz dunkel, er wird die Leute dort nie verstehen.

»Über so was haben wir uns ja noch nie unterhalten«, ruft Petter. »Das machen wir jetzt mal. Ich habe ja lange in Archiven der Nazi-Zeit gearbeitet. Das nimmt einen doch ganz schön mit, was man da liest.«

»Ach was, da muss man selbst mit fertig werden. Wir sind doch gestandene Mannsbilder. Ich war 16 Jahre freiwillig beim Roten Kreuz. Da sieht man ganz andere Sachen«, sagt Schleyer.

Haben sie eigentlich irgendeine Art von Qualifikation für die Aktenrekonstruktion?

»Wie soll man sich denn dafür qualifizieren? Die Arbeit gibt's doch sonst gar nicht. Die ist doch einmalig«, sagt Schleyer.

»Gesunder Menschenverstand«, sagt Schrödinger.

»Es ist natürlich 'ne Erfahrungssache. Wenn ich zu viel auf einmal aus dem Sack hole, wird's unübersichtlich«, sagt Schleyer. Er beschreibt, wie sie die Aktenschnipsel schichtweise aus den Säcken heben, so wie sie die Stasi-Leute damals in die Säcke geworfen haben, bloß andersrum. Über seinem Schreibtisch hängt sein Motto: »Wenn die Arbeit richtig gut von der Hand geht, wenn es nur so flutscht, dann macht es richtig Spaß«. Das hat er sich selbst ausgedacht. Ein Kalenderspruch von Georg Schleyer.

Die Puzzler aus dem Frankenland sind, wenn man so will, die Vorgängermodelle der Stasi-Schnipsel-Maschine, die das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik in Berlin gerade entwickelt. Die Zirndorfer haben eine ganze Menge brisanter Fälle aufgedeckt in den vergangenen Jahren. Sie haben Akten von Sascha Anderson gefunden, von Heinrich Fink, von der Terroristin Silke Maier-Witt, die eines Berliner Sportarztes und die eines thüringischen Bischofs.

Die letzten brisanten Schnipsel lieferten Informationen zu Gregor Gysi. Material tauchte auf über den Künstler Thomas Erwin, über ein Treffen und eine Autofahrt danach mit einem IM. Die beiden Seiten dieser Akten, die Gysi belasten, wurden in Zirndorf zusammengesetzt. Natürlich haben sie auch jede Menge Speisepläne aus Stasi-Kantinen zusammengepuzzelt und irgendwelche langweiligen Parteitagsdirektiven. Sie arbeiten zuverlässig, aber langsam, eine Art Stasi-Schnipsel-Dampfmaschine.

»Wir haben mal ausgerechnet, dass es 500 Jahre dauern würde, wenn wir in diesem Tempo weitermachen würden«, sagt Günter Bormann, Referatsleiter der Stasi-Unterlagen-Behörde. »Und wenn man den Urlaub noch mit reinrechnet, kommt man schnell auf 700 Jahre. Das ist natürlich absurd. Deswegen haben wir beschlossen, die automatische Rekonstruktion in Auftrag zu geben. Es war eine politische Entscheidung.«

Im Jahr 2000 schrieb die Behörde den Wettbewerb für eine Machbarkeitsstudie »der virtuellen Rekonstruktion vorvernichteter Stasi-Akten« aus. Es meldeten sich ein paar große Unternehmen. Eines von ihnen schlug vor, die 16 000 Säcke nach Vietnam zu fliegen und von Vietnamesen zusammenpuzzeln zu lassen, die billiger und fingerfertiger seien als die Deutschen. Die Experten des Unternehmens hatten ausgerechnet, dass es sechs bis sieben Jahre dauern würde, wenn man tausend Vietnamesen an die Sache setzte.

»Das ging rein rechtlich nicht«, sagt Joachim Häußler, der von der Birthler-Behörde als Projektleiter für die automatische Rekonstruktion eingesetzt wurde. »Die Akten dürfen den Boden des Grundgesetzes nicht verlassen. Wir können da nicht jeden hergelaufenen Hustensaftschmuggler ransetzen.«

So bekam das Fraunhofer-Institut in Berlin den Zuschlag und damit Dr. Bertram Nickolay, der dort die Abteilung Sicherheitstechnik leitet. Nickolay entwickelt seit Jahren Verfahren zur Fingerabdruckidentifikation, Unterschriftenanalyse und Gesichtserkennung, er arbeitet mit Zollbeamten und Kriminalisten in ganz Deutschland zusammen und wurde schnell zum Herz des Projekts.

Nickolay stellte ein Team von Spitzenleuten zusammen und entwickelte ein Verfahren, das die zerrissenen Schnipsel digital erfasst und nach Merkmalen wie Farbe, Linierung, Schriftbild oder Textur sortiert. Die Kennzeichen bleiben so lange im Rechnersystem, bis die früheren Nachbarn der Schnipsel gefunden sind, und werden dann zu einer Seite zusammengefügt. Dazu braucht man Hochleistungsrechner und -scanner sowie ein Gerät, das die Schnipsel glättet, bevor sie gelesen werden.

Für Nickolay stand fest, dass es das wert ist. Er ist ein kleiner runder Mann mit wenigen, aber langen silbrigen Haaren, die er kunstvoll um seinen Kopf wickelt. Er sieht gemütlich aus, aber das täuscht.

Bertram Nickolay ist überzeugt davon, dass jedem großen technischen Fortschritt eine gesellschaftliche Idee zugrunde liegt. Für Joachim Häußler, den Projektleiter der Birthler-Behörde, ist die Maschine ein surrendes, kaltes Gewirr von Algorithmen. Für Bertram Nickolay ist sie ein Automat gegen das Vergessen.

Häußler ist ein Beamter, Nickolay ist ein Erfinder. Häußler sammelt Modelleisenbahnen, er hat 40 Triebwagen und 150 Personen- beziehungsweise Güterwaggons, seine Spur ist H0. Bertram Nickolay sammelt jiddische Lieder und andere Dinge, die in die Geschichte fallen und darin unterzugehen drohen. Er hat in jahrelanger Arbeit eine CD mit Liedern aus dem Warschauer Ghetto herausgebracht, er unterstützt die »Verschwiegene Bibliothek« der Büchergilde Gutenberg, in der verbotene Werke der DDR-Literatur herausgegeben werden, er trifft sich regelmäßig mit einem chilenischen Poeten, der unter Pinochet das Land verlassen musste, und war ein guter Freund des ostdeutschen Bürgerrechtlers und Dichters Jürgen Fuchs. Fuchs saß für seine Überzeugungen im Stasi-Gefängnis, er starb 1999 an Krebs, und bis heute ist nicht ausgeschlossen, dass er von der Staatssicherheit verstrahlt wurde.

Es war eine politische Entscheidung, auch für Bertram Nickolay. Allerdings stehen die Dinge in der Politik längst nicht so fest wie in der Naturwissenschaft.

In der Machbarkeitsstudie hatte Nickolay ausgerechnet, dass seine Maschine die Schnipsel in den 16 000 Säcken in drei bis vier Jahren zusammensetzen könnte. Die virtuelle Rekonstruktion würde etwa 35 Millionen Euro kosten. In Politikerkreisen wuchs diese Zahl auf 50 Millionen, manche reden heute noch von 70 Millionen. Das sind die Gegner des Projekts, sagt Nickolay, die falsche Zahlen streuen, um die Maschine zu diskreditieren. Immer öfter hörte er, dass die Entscheidung für seine Maschine eine politische Entscheidung sei, manche sprachen auch von einer hochpolitischen Entscheidung. Politische Entscheidungen fraßen offenbar viel Zeit und hochpolitische noch viel mehr. Er versuchte zu erkennen, wo die Linien dieser Auseinandersetzung verliefen, aber das war alles ziemlich verwirrend. Allein in der CDU gab es erbitterte Feinde und ergebene Freunde des Projekts.

Für Klaus-Peter Willsch, der für den Rheingau-Taunus-Kreis im Bundestag sitzt, ist der Einsatz für die Stasi-Schnipselmaschine eine Fortführung seiner Aktionen mit der Jungen Union. Er war schon in den frühen Achtzigern zu den Jahrestagen des 17. Juni in Ost-Berlin und hat dagegen protestiert, dass die Bundesbahn die DDR-Fahrkarten am Auslandsschalter verkaufte. Arnold Vaatz aus Dresden dagegen glaubt, dass die Maschine der Birthler-Behörde nur dazu dienen soll, ihre Existenz zu rechtfertigen. »Das einzige Interessante wäre doch mal die Verstrickung der westdeutschen Gesellschaft zu untersuchen«, sagt Vaatz. »Das westdeutsche Establishment, das untersucht die Birthler-Behörde nicht, die will doch bloß am Leben bleiben wie jede andere bürokratische Behörde auch.«

Die Bundestagsabgeordnete Beatrix Philipp aus Düsseldorf wiederum glaubt, dass die Maschine gegen die Verklärung der DDR-Diktatur wirken kann. »Ich krieg das Nervenzucken, wenn ich lese, wie wenig die jungen Leute heute noch über die Mauerzeit wissen«, sagt sie. Sie hat fast im Alleingang durchgesetzt, dass Nickolay die sechs Millionen Euro bekommt, die er für die Pilotphase benötigte. Sie hat sich auch das Wort Stasi-Schnipselmaschine ausgedacht, weil ihr »virtuelle Rekonstruktion vorvernichteter Stasi-Akten« viel zu kompliziert klang. Sie hat in Bundestagsdebatten über die Maschine geredet und in Briefen und Telefonaten dafür gesorgt, dass die sechs Millionen in dem Haushaltsentwurf blieben, aus dem sie immer wieder herausgefallen waren.

Während die Politiker aus Innen-, Haushalts-, und Kulturausschüssen sich die Bälle zuspielten, fiel Nickolays Team auseinander. Einige Wissenschaftler verließen das Institut und die Stadt, weil sie nicht darauf warten wollten, ob das Projekt nun in irgendwelchen Haushaltsnachträgen auftauchte oder nicht. Nickolay begann zu denken wie ein Politiker. Einfacher.

Zum Auftakt des Pilotprojekts hängte er zwei Flatscreen-Monitore an eine Wand und stellte einen Scanner davor, durch den er ein paar Schnipsel schickte, die dann auf den Bildschirmen zusammengesetzt wurden. Es waren immer dieselben Schnipsel, immer dieselben Bilder. Die automatische Rekonstruktion der Stasi-Akten als »Sendung mit der Maus«. Die Maschine entschlüsselte nichts, sie lieferte Schnittbilder für japanische, französische und englische Fernsehberichte aus der seltsamen Welt der Deutschen, die eifrig im Aktenanlegen und eifrig im Aktenzerreißen waren, aber auch ganz vorn dabei, wenn es darum ging, die zerrissenen Akten wieder zusammenzusetzen.

Einige der Fensehteams besuchten anschließend auch das Sacklager in Magdeburg. »Viele wundern sich natürlich über den Aufwand, den wir hier betreiben«, sagt Jörg Stoye, der die Außenstelle der Behörde in Magdeburg leitet. »Und neulich war ein russisches Team hier, die fragten mich, warum die Stasi die Schnipsel nach dem Zerreißen nicht einfach auf einen großen Haufen geschüttet und durcheinandergerührt hat, statt sie ordentlich in Säcke zu verpacken.«

Und was hat er ihnen gesagt?

»Dass das wohl unserer Mentalität widerspricht«, sagt Stoye.

Nickolay sagt, dass das internationale Medienecho auf die Stasi-Schnipselmaschine sehr viel größer war als das auf das MP3-Musikformat, das ja auch in einem Fraunhofer-Institut entwickelt worden war. Die Maschine ist der größte PR-Erfolg der Institutsgeschichte, und so ist man ziemlich verwundert, wenn man sie schließlich sieht.

Bertram Nickolay zieht eine Tür auf, und da steht eine Frau an einem Bügelbrett, die ein paar Aktenschnipsel plättet, damit der Scanner sie auch richtig lesen kann. Der Scanner sieht aus, als könne man ihn bei Media Markt für 200 Euro kaufen. Es sind noch zwei andere Frauen im Zimmer, die Aktenschnipsel vorsortieren. Sie tragen Kittel. Es gibt einen Raum, in dem die Säcke aus der Birthler-Behörde angeliefert und die zusammengesetzten Aktenpakete gelagert werden, und eine klimatisierte Kammer, in der zwei dicke schwarze, surrende Blöcke stehen. Das sind die Hochleistungsrechner, die die Koordinaten der Schnipsel vergleichen sollen. Die Frauen hinterm Bügelbrett schauen kurz auf, Dr. Nickolay nickt. Es ist, als stecke der Chef einer kleinen, chinesischen Wäscherei kurz den Kopf rein.

Nickolay schließt die Tür schnell. Die Funktionsweise der hochkomplizierten Maschine ist für Laien ohnehin schwer zu verstehen. Man sieht die Algorithmen nicht. Bis jetzt gibt es noch keine spektakulären Funde, und die Frau mit dem Bügeleisen zerstört die Bilder im Kopf, die er braucht. Bertram Nickolay hatte die Idee einer Maschine, die mit den Sünden der Vergangenheit gefüttert wird und am Ende irgendetwas Erlösendes ausspuckt. Eine gute deutsche Maschine. Aber manchmal wirkt sie wie eine verzweifelte deutsche Maschine, in der Ingenieurskunst, Bürokratie und der Wille zur Selbstkasteiung durcheinanderrumpeln, bis alles auseinanderfliegt.

Das Projekt zieht die seltsamsten Gestalten an, sagt Nickolay. Manche seien am Rande des Nervenzusammenbruchs, besessen und beseelt, manche so rechts, dass er ihnen schnell erzählte, dass er sich für jüdische Kultur einsetzt, um sie wieder loszuwerden. Es gibt die kühlen Rechner aus den Haushaltsausschüssen, die Archivare mit ihren vernünftigen, langweiligen Argumenten und die selbsternannten Stasi-Jäger, sagt er. Es gibt Leute, die wollen Rache, Leute, die wollen Ruhe, und Leute, die wollen Gerechtigkeit.

Vor ein paar Wochen trafen sich einige der Archivare, Politiker, Wissenschaftler und Beamten, mit deren Energie die Maschine betrieben wird, im Fraunhofer-Institut, um über den Stand der Arbeit zu beraten. Sie haben alle ihre Obsessionen, Ängste und Hoffnungen, aber darüber redeten sie nicht. Es ging vor allem um die Sackauswahl.

Im zweiten Jahr der Pilotphase soll die Maschine richtig arbeiten, sie soll Schnipsel aus 400 Säcken zusammensetzen. Etwa so viel, wie die Zirndorfer in 13 Jahren geschafft haben. Nickolay will brisantes Sackmaterial, solches aus der Hauptverwaltung Aufklärung zum Beispiel, um am Ende der Pilotphase Ergebnisse vorzeigen zu können, mit denen er die Politiker überzeugen kann, Geld für die Hauptphase lockerzumachen.

Beim Treffen forderte die Abgeordnete Beatrix Philipp Marianne Birthler auf, »dem Nickolay jetzt wirklich die richtigen Säcke zu schicken«. Angelika Menne-Haritz wiederum, die Vizepräsidentin des Bundesarchivs, erklärte, dass man nur durch »größtmögliche Spreizung bei der Sackauswahl« ein repräsentatives Bild von dem bekommt, was in den 16 000 Säcken ist. Diese Vorgehensweise »ist aus wissenschaftlicher, archivtechnischer, wirtschaftlicher und personalwirtschaftlicher Sicht Schwachsinn«, hält Nickolay in einer zweiseitigen Stellungnahme zur Sackauswahl fest.

Er ahnt, dass er mit seiner Maschine in einen Streit zwischen der Behörde und dem Bundesarchiv gerät, das die Stasi-Akten gern in seinen Regalen sähe. Bei ihnen, so argumentieren die Archivare, könne man sie besser mit dem anderen Schriftgut vergleichen, das die DDR hinterließ. Die Birthler-Behörde solle erst einmal die vollständigen Akten erschließen, statt sich um zerrissene zu kümmern, sagen sie. Den Archivaren ist der Ansatz der Behörde zu reißerisch, für die Behörde riechen die Archive nach Tod. Den einen geht es um Opfer und Täter, den Archiven um die Geschichte. Die schriftliche Erinnerung kämpft mit der lebendigen. Der Streit kochte so hoch, dass sich sogar Angela Merkel einschaltete; ein Ende der Behörde sei ein falsches Signal, sagte sie.

Wenn es nach Dr. Nickolay ginge, würde er die 173 Kilometer Stasi-Akten aus der Behörde gleich mitdigitalisieren. Er frage sich sowieso manchmal, was die vielen Menschen in der Behörde den ganzen Tag lang machten, sagt er.

Ein paar Tage später, an einem sonnigen Sommermorgen, möchte Bertram Nickolay seine Idee nach Europa tragen. Vom historischen Flughafen Berlin-Tempelhof aus, das gefällt ihm. Er wartet auf die Morgenmaschine nach Brüssel, wo sich heute Berlin und Brandenburg vor Europaabgeordneten als die Bundesländer präsentieren, die sich auf Sicherheitstechnik spezialisiert haben. Nickolay hat den Filettermin bekommen, wie er das nennt. Er ist mit seinem Vortrag um zwölf Uhr dran, direkt vor dem Mittagessen, wenn noch alle Europaparlamentarier anwesend und halbwegs aufmerksam sind. Nickolay wird ihnen vom universellen Kern seiner Maschine berichten. Sie könnte den Chilenen und Argentinieren helfen, die Akten ihrer Diktaturen zu ordnen, sagt er. Die Maschine könnte Steuerfahndern behilflich sein und auch den Behörden, die die Hinterlassenschaften der Staatssicherheitsdienste der anderen Ostblockstaaten verwalten. Neulich war eine Delegation aus Tschechien zu Besuch bei Nickolay, auch die Slowaken, Rumänen und Polen haben Interesse.

Es ist wichtig, die Idee aus Deutschland wegzubekommen, weg von den Beamten und all dem Staub. Am Ende dieses Sommers muss Nickolay seinen Geldgebern aus der Politik beweisen, dass die Versuchskette prinzipiell funktioniert. Es ist der dritte Meilenstein der Pilotphase. Ein Breakpoint, sagt Nickolay. Wenn er den nicht schafft, wird das Projekt abgebrochen. Dann stirbt seine Idee.

Erst einmal stirbt der Flug nach Brüssel. Ein Mitarbeiter von Brussels Airlines erklärt, dass aus einer der Jet-Turbinen Öl tropft. Der nächste Flug geht erst in drei Stunden, damit wäre der Filettermin nicht zu halten. Dr. Nickolay ruft in Belgien an und erfährt, dass die Organisatoren nicht in der Lage sind, seinen Vortrag auf den Nachmittag zu verschieben. Sie versuchen nicht mal, ihn zu überreden, doch noch zu kommen. Die Idee muss in Deutschland bleiben, bei den Akten. Und wenn man ehrlich ist, gehört sie da auch hin. Die Tschechen haben 800 Säcke mit Schnipseln, die Slowaken 300, die Polen 900, wir haben 16 000. Das ist Weltrekord.

Nickolay schleicht mit seinem Rollenkoffer durch die Flughafenhalle. Er redet von den »Kräften in der Behörde«, die ihm die »minderwertigen Säcke« liefern. In manchen fanden sie Holzstücke und vergammelte Nahrungsmittel. Er sei als Techniker natürlich gegen Verschwörungstheorien, aber er habe bei diesem Projekt unerklärliche Dinge erlebt, sagt Nickolay und schaut auf die Abflugtabelle. Für einen Moment scheint es nicht ausgeschlossen, dass auch Brussels Airlines Teil der Verschwörung sein könnte.

Nickolay steht auf dem Flughafen Tempelhof wie ein Symbol des Kampfes lebendiger und schriftlicher Erinnerung. Es zerreißt ihn fast. Er denkt an Jürgen Fuchs, seinen Freund.

Beatrix Philipp denkt an die Freundin ihrer Mutter in Magdeburg, die sie als Kind immer zu Weihnachten besuchte, an die unfreundlichen Grenzbeamten. Klaus-Peter Willsch denkt an die SPD-Politiker, die sich in den siebziger Jahren vom Traum der deutschen Einheit verabschiedeten, Arnold Vaatz denkt an das linke westdeutsche Establishment. Angelika Menne-Haritz vom Bundesarchiv denkt daran, dass Archive auch therapeutische Wirkung für eine Gesellschaft haben, weil sie das Vergessen ermöglichen. Woran Marianne Birthler denkt, wenn sie an die Maschine denkt, war leider nicht herauszufinden. Sie war in zehn Wochen nicht in der Lage, einen einzigen Satz zu der Stasi-Schnipselmaschine zu sagen.

»Wir müssen das Projekt bis zum nächsten Jahr am Leben halten«, sagt Bertram Nickolay, »2009 ist Jubiläumsjahr, 20 Jahre Mauerfall, dann wagt niemand, so ein Projekt abzubrechen.« Das ist nicht mehr der Satz eines Technikers, so reden Politiker. Nickolay ist hineingeraten in die Parallelbewegung im Überlieferungsbereich.

Sie lassen in diesen Tagen noch einen Imagefilm über Nickolays Erfindung drehen. Einen Werbespot von einem Filmteam, das sonst für »Terra X« arbeitet. Vielleicht hilft es ja. Ansonsten bleiben immer noch Georg Schleyer und Ernst Schrödinger in Zirndorf.

»Ich kenn das Lager mit den Säcken in Magdeburg und die Maschine da in Berlin. Ich habe keine Angst um meinen Arbeitsplatz«, sagt Schleyer. »Wir machen hier weiter.«

Wenn man ihn sieht und hört, kann man sich vorstellen, dass es ihn noch in 500 Jahren gibt, beziehungsweise in 700, wenn man den Urlaub mit einrechnet. Jegliche lebendige Erinnerung an die DDR wäre tot, selbst Deutschland existierte nicht mehr, und der Mann in der zu engen blauen Jacke würde mehr über das untergegangene Land erzählen als die Akten, die er zusammenpuzzelt.

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