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KIRCHE »Die Juden zuerst«

Protestantische Eiferer haben eine neue Zielgruppe ausgemacht, die sie zu Jesus bekehren wollen: jüdische Zuwanderer aus Rußland. Rabbiner Joel Berger nennt die Christenmission »die Fortsetzung des Holocaust mit anderen Mitteln«.
Von Henryk M. Broder
aus DER SPIEGEL 29/1998

In Korntal bei Stuttgart ist »das Ländle« noch intakt: Putzzwang gilt als Tugend, die Bürgersteige sind gekehrt, die Vorgärten getrimmt, die Mülltonnen glänzen.

Kein Mensch würde vermuten, daß Korntal das logistische Zentrum einer Bewegung ist, die bis weit in den Osten hinein operiert: In einem unauffälligen Haus in der Zuffenhauser Straße hat der »Missionsbund zur Ausbreitung des Evangeliums - Licht im Osten« sein Hauptquartier.

1920 gegründet, beschäftigt sich der eingetragene Verein, der auch dem Diakonischen Werk der evangelischen Landeskirche in Württemberg angehört, mit der »Herausgabe und Verbreitung von Bibeln, christlicher Literatur und Medien in ca. 30 Sprachen Osteuropas und Mittelasiens mit Schwerpunkt ehemalige Sowjetunion«.

Seit der Eiserne Vorhang zerrissen ist, haben die christlichen Missionare mehr zu tun denn je. Der Missionsbund gibt drei Zeitschriften in russischer Sprache heraus: »Glaube und Leben«, zweimonatlich (Auflage: 120 000), das Kindermagazin »Tropinka« (Der kleine Pfad), ebenfalls zweimonatlich (Auflage: 140 000), und seit 1995 »Menora«, viermal jährlich 45 000 Exemplare. Die Menora, ein siebenarmiger Leuchter, ist das jüdische Symbol schlechthin. Dementsprechend sind »russisch sprechende Juden« die Zielgruppe des Blättchens. Die Missionare tragen ihr »Licht« nicht nur zu den sowjetischen Heiden und wiederbelebten Christen, sie bieten es auch den Juden an, die noch im Osten leben; und vor allem denjenigen, die als »Kontingentflüchtlinge« in den vergangenen Jahren in die Bundesrepublik gekommen sind.

Martin Hirschmüller, 1960 geboren, Pfarrer in Ostfildern-Ruit, leitet den Missionsbund »Licht im Osten«. Die Juden liegen ihm besonders am Herzen, denn: »Jesus wollte das Judentum vollenden, er war der Messias, mit ihm kam die Erfüllung, das Dilemma war nur, das Volk Israel konnte mit ihm nicht viel anfangen.« Nun gebe es wieder »messianische Juden, christliche Juden«, die an »Jesus als ihren Messias glauben, aber ihre jüdische Identität nicht aufgeben wollen«.

Ihretwegen wurde am 26. Februar 1996 in Stuttgart die »Israelitische messianische Gemeinde« in das Vereinsregister eingetragen. Vorsitzender ist Waldemar Zorn, 1950 im sibirischen Altai geboren, Rußlanddeutscher, Nichtjude und Elektrotechniker von Beruf. Zorn lebt seit 1982 in der Bundesrepublik, und so lange arbeitet er auch schon für das Missionswerk »Licht im Osten«, sein offizieller Titel lautet »Koordinator für die GUS-Länder«. Die ganze Gemeinde besteht aus etwa 50 Mitgliedern, von denen etwa zwei Drittel »messianische Juden« sind und die übrigen evangelische Christen, die wie Zorn »die Juden lieben«.

Die Israelitische messianische Gemeinde e. V. hat ihren Sitz in der Rhönstraße 7 in Stuttgart-Feuerbach. Es ist die Adresse der Evangelisch Freikirchlichen Gemeinde Christuskirche. Unter der im Briefkopf angegebenen Telefonnummer 838 04 07 erreicht man entweder ein Fax oder Frau Bergmann, deren Ehemann Peter Vorstandsmitglied und Geschäftsführer der Israelitisch-messianischen Gemeinde ist. Die Bergmanns sind Rußlanddeutsche, leben seit vielen Jahren in der Bundesrepublik und »helfen Juden, die aus Rußland kommen, weil wir sie lieben«.

Die Gemeinde habe sich »unabhängig von uns gebildet«, sagt Pfarrer Hirschmüller. »Wir haben die Gemeinde gegründet«, sekundiert Zorn; man leiste »Integrationshilfe«, denn »die meisten, die nach Deutschland kommen, haben eine Identitätskrise, sind weder Russen, Juden noch Deutsche und hängen in der Luft«.

Damit sie wieder eine Identität finden und festen Boden unter den Füßen bekommen, will man die jüdischen Einwanderer »zu ihren geistlichen Wurzeln zurückführen«, denn, so Waldemar Zorn, »die einzige Möglichkeit, wirklich zu der jüdischen Identität zurückzufinden, ist durch den Glauben an Jesus als Messias der Juden«.

Für den württembergischen Landesrabbiner Joel Berger stellt sich die Situation ganz anders dar: »Es gibt keine Judenchristen. Man ist entweder Jude oder Christ. Wer an Jesus glaubt, kann kein Jude sein.«

Doch die Evangelikalen aus dem pietistischen Südwesten der Republik halten sich an einen Spruch aus dem Neuen Testament: »Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst.« Dieser Satz steht im Römerbrief 1, 16 und auf den Briefen, die der »Edi - Evangeliumsdienst für Israel e. V.« aus Echterdingen bei Stuttgart verschickt, wobei über dem »I« ein Davidstern den Punkt ersetzt. Während »Licht im Osten« ein Großversand ist, der ganz Osteuropa beliefert, ist der Edi eine Spezialitätenhandlung, die sich ausschließlich mit Juden beschäftigt.

Wer die Stuttgarter Nummer 79 39 87 außerhalb der Geschäftszeiten anwählt, wird mit dem Spruch begrüßt: »Schalom, Sie sind verbunden mit dem Evangeliumsdienst für Israel.« Der Anrufbeantworter steht im Souterrain eines grauen Zweifamilienhauses in der Christophstraße in Echterdingen unweit des Stuttgarter Airports.

Der Edi, Ende 1971 von Christen gegründet, »die eine tiefe Liebe zu Israel im Herzen trugen und denen das Zeugnis von Jesus, dem Messias, gegenüber dem jüdischen Volke am Herzen lag«, kümmert sich vor allem um »messianische Juden« beziehungsweise »jüdische Christen« in Israel und fördert die Verbreitung des Neuen Testaments in hebräischer Sprache.

Doch seit russische Juden zu Tausenden nach Deutschland strömen, hat der Edi auch ein Auge auf sie geworfen. Inzwischen wurde »ein messianischer Jude aus Kiew« eingestellt, der »im Gemeindeaufbau tätig« ist und »seelsorgerliche Begleitung und Beratung« gibt. Soll heißen: Der Evangeliumsdienst für Israel e. V. beginnt, in der Bundesrepublik messianische Judengemeinden aufzubauen.

Der Vorsitzende des Dienstes, Dekan Rainer Uhlmann aus Gaildorf bei Schwäbisch-Hall, liebt auch die Juden, ist aber nicht bereit, sich über seine Arbeit zu äußern, das Thema sei »ausgetreten«. Dann aber redet er doch: Der Edi sei »ein freier Verein innerhalb der evangelischen Landeskirche«, finanziere sich zum größten Teil aus Spenden und nur zu einem kleinen Teil aus Kirchengeldern.

Mehr mag der Dekan aus Gaildorf nicht sagen. Hartmut Renz, Edi-Geschäftsführer, ist noch wortkarger: »Wir haben nichts zu sagen. Wir möchten keine Angaben machen. Wir haben noch keinen fairen Bericht bekommen.«

Das, was Hartmut Renz zu sagen hat, veröffentlicht er in den Rundbriefen des Edi, für die er verantwortlich zeichnet. In der Ausgabe vom April enthüllt er, daß es nicht an Arafat und Netanjahu liegt, wenn es mit dem Frieden nicht vorangeht: »Mit dem Messias hat Israel zugleich auch das Heil verworfen, das er mit sich brachte ... Die Einladung zum Glauben an Jesus ist der beste Dienst, den wir Israel tun und der beste Beitrag zum Frieden, den wir leisten können.« In der Schrift »Jüdischen Freunden vom Messias erzählen«, herausgegeben von der »Arbeitsgemeinschaft für das messianische Zeugnis an Israel« und vertrieben vom Edi, werden wertvolle Tips gegeben, wie man »jüdischen Menschen das Evangelium nahebringen« kann.

Bald würden »gegen 100 000 Juden hier leben, da wäre es doch schrecklich, wenn wir Christen in Deutschland heute das Evangelium den Juden, die unter uns leben, vorenthalten« würden: »Wir würden sie einem noch schlimmeren Holocaust ausliefern, indem wir zulassen, daß sie wegen ihrer Sünde und ihres Unglaubens in ewiger Gottesferne bleiben.«

Rabbiner Joel Berger findet soviel Judenliebe »unerträglich«; die Tätigkeit der Missionsdienste sei »die Fortsetzung des Holocaust mit anderen Mitteln«.

Berger, 1937 in Ungarn geboren, hat den Krieg im internationalen Ghetto von Budapest überlebt, während sein Vater die deutsche Gastfreundschaft in Bergen-Belsen und Theresienstadt erleben durfte. 1968 kam Berger in die Bundesrepublik. Er war Rabbiner in Düsseldorf, Bremen und Göteborg, bevor er 1981 Landesrabbiner von Württemberg wurde. Vor zehn Jahren hatte die Gemeinde gerade noch 700 Mitglieder, heute sind es fast 2000, zwei Drittel von ihnen »Russen«.

Samstags, auf dem Weg zur und von der Synagoge, sieht er die Missionare vom »Licht im Osten« Flugblätter und Broschüren in der Stuttgarter Königstraße verteilen. »Unter der Woche gehen sie in die Wohnheime, verteilen dort ihre Schriften und treiben Gehirnwäsche. Warum können sie uns nicht in Ruhe lassen?«

Die Proteste des Rabbiners haben wiederum die Kirchenoberen zum Widerspruch veranlaßt. Weder die EKD noch eine Landeskirche finanziere Aktivitäten, die als Judenmission ausgelegt werden könnten, hieß es in einer Erklärung des EKD-Kirchenamts Ende März. Doch die Judenmission findet unter den Augen der Kirchenämter statt, es gilt das föderale Prinzip; die 24 Gliedkirchen der EKD machen, was sie für richtig halten.

In Nordelbien wird nicht missioniert, im Rheinland auch nicht, nachdem die rheinische Landessynode schon 1980 einen eindeutigen Beschluß gefaßt hat, keine Missionsarbeit an Juden zu treiben.

Im Südwesten dagegen gehen die Missionare täglich neu ans Werk, gibt der stellvertretende Vorsitzende des Edi, Pfarrer Martin Rösch, in einem Interview mit dem evangelischen »Allgemeinen Deutschen Sonntagsblatt« ganz ungeniert zu, Ziel seiner Bemühungen sei es, daß sich die Juden bekehren und taufen lassen.

Oberkirchenrat Ernst Lippold vom EKD-Kirchenamt in Hannover erklärt den Bekehrungseifer mit der »pietistischen Tradition« der Region: »Das sind Leute, die dafür echte christliche Motive haben. Die Liebe zum Herrn Jesus ist das Teuerste und Beste, was sie haben, und das gönnen sie jedem, auch wenn er es gar nicht will.« Lippold weiß, daß der Edi kirchliche Mittel »für einen Teil seiner Aktivitäten bekommt«, aber »das Kirchengeld läuft nicht mit der Zweckbestimmung, Mission unter Juden zu treiben«.

Kirchenrat Klaus Sturm, Persönlicher Referent des württembergischen Landesbischofs Eberhardt Renz, legt größten Wert auf die Feststellung, daß die Kirchengelder nicht vom Bischof, sondern von der Synode, dem Parlament der Kirche, verteilt werden, »und da sitzen zu zwei Dritteln Laien«. Er persönlich meine, »die nächsten 3000 Jahre sollten sich Deutsche aus diesem Zeugnis gegenüber Juden raushalten aufgrund der jüngsten Geschichte«, aber »theologisch kann man darüber reden, es ist eine Streitfrage.«

Für Horst Stresow, 1928 in Rogzow in Hinterpommern geboren, ist die Frage längst entschieden. »An Jesus kommt keiner vorbei, weder Jude, Christ noch Heide. Wir müssen evangelisieren, um allen zu sagen: Der Messias ist schon da.«

Der pensionierte Sozialarbeiter und freiberufliche Prediger kümmert sich seit zwei Jahren um die erste messianische Gemeinde in Berlin: »Beit Sar Shalom« (das Haus des Friedensfürsten). Als »Tätigkeit und Ziele« werden unter anderem genannt: »Evangelisation an Juden, Gründung messianischer Gemeinden und Bibelkreise in ganz Deutschland, Schulung von Gläubigen.«

Auch für die Berliner gilt die Losung: Die Juden zuerst. »Wir glauben, daß wir den Juden das Evangelium zuerst bringen sollen und dann auch den Nichtjuden, damit alle Menschen gerettet werden.«

In Berlin haben die messianischen Juden Obdach in einem Haus der »Landeskirchlichen Gemeinschaften« gefunden, die ein eingetragener gemeinnütziger Verein innerhalb der evangelischen Kirche ist. Das »Haus Gotteshilfe« in der Werbellinstraße 32 im Bezirk Neukölln sieht von außen nicht wie eine Kirche aus, doch über der Eingangstür leuchtet ein Neonkreuz und weist den Gläubigen den Weg in das protestantisch karge Innere.

Hier versammeln sich die messianischen Juden zweimal die Woche. Und fast immer ist Horst Stresow mit dabei, auf dem Kopf eine Kipa, wie sie von frommen Juden getragen wird, am Ringfinger der linken Hand einen Silberring mit dem hebräischen Wort für Jesus ("Joschua") und am Jackenrevers einen silbernen Davidstern, in dessen Mitte ein Kreuz eingearbeitet ist.

»Wenn ich mir einen schwarzen Hut anziehe, sehe ich selbst wie ein Jude aus«, sagt er mit verhaltenem Stolz, und dann kann es schon mal vorkommen, daß ihm jemand auf der Straße »Judensau!« nachruft. Auch darauf scheint er irgendwie stolz zu sein.

Deutschland habe »eine Menge Schuld an Juden auf sich geladen«, und da habe er sich gefragt: »Wie können wir helfen, wie können wir wiedergutmachen?«

Den Juden das Evangelium zu verkünden, sie von Jesus als ihrem Messias zu überzeugen ist für Horst Stresow die effektivste Form der Wiedergutmachung. Doch hält er sich bescheiden im Hintergrund und überläßt die Szene dem »Missionsleiter« von Beit Sar Shalom: Wladimir Pikman, 1969 in Kiew als Kind nichtpraktizierender Juden geboren. Der Diplom-Mathematiker sieht wie ein Jünger Jesu aus, auch er trägt eine Kipa auf dem Kopf und einen goldenen Davidstern an einem Kettchen um den Hals.

Seit er 1991 zufällig einen Juden kennenlernte, »der mir von Jesus erzählte«, ist er ein »sehr glücklicher Jude, weil ich den wirklichen Messias kenne«. Er habe »Gottes Willen so verstanden, nach Deutschland zu gehen«, um in Berlin eine messianische Gemeinde zu gründen.

1995 folgte Wladimir Pikman dem angeblichen Wunsch Gottes, schon im April 1996 wurde die Beit-Sar-Shalom-Gemeinde gegründet. Auf die Frage, womit er sein Leben in Berlin finanziert, wer die Miete für das Gemeindebüro, das Telefon und die Kosten für seine Reisen nach Kiew bezahlt, antwortet Wladimir, den Horst Stresow zärtlich »Walodja« nennt: »Ich habe einen Freundeskreis, der mich unterstützt, ich bin ein Missionar, Gott ist gut für uns, er hilft.«

Zu den Gottesdiensten kommen etwa 50 Menschen, messianische Juden aus der ehemaligen Sowjetunion und deren deutsche Freunde. Seit einiger Zeit wird auch in den Wohnheimen der jüdischen Zuwanderer in Potsdam und Ahrensfelde evangelisiert, denn »alles spricht dafür, daß Gott noch mehr Juden in Potsdam erlösen möchte«, darüber hinaus steht die »Rettung von Juden in Deutschland und in der Welt« auf dem Programm von Beit Sar Shalom.

Im »Ländle« freilich, ihrem Kernland, haben die Judenretter eben eine Niederlage einstecken müssen. Nachdem der Sozialarbeiter der jüdischen Gemeinde, Werner Meier, Anfang dieses Jahres in einer Kirchenfunksendung des SWF gesagt hatte, der »Evangeliumsdienst für Israel« würde die »Unerfahrenheit der Leute« mit »Versprechen, die nicht seriös sind«, ausnutzen, wozu auch Angebote bezüglich Wohnungen und Arbeit gehörten, wurde er von den Edi-Funktionären auf Unterlassung verklagt.

Mitte Juni gab die Pressekammer beim Stuttgarter Landgericht den Missionaren zu verstehen, daß sie mit ihrer Klage keine Aussicht auf Erfolg hätten. »Wenn man so handelt wie Sie, dann müssen Sie damit rechnen, daß Ihnen schärfste Kritik entgegenschlägt«, meinte der Vorsitzende Richter.

Worauf die Missionare aus Echterdingen ihre Klage zurückzogen und nach Hause gingen, enttäuscht von der Haltung des Gerichts, aber fest entschlossen, ihr Werk fortzusetzen. Denn der »Missionsbefehl ist im Neuen Testament ausgesprochen und steht hier nicht zur Diskussion«.

Doch die Juden, seit Jesu Zeiten stur und unbelehrbar, wollen nicht gerettet werden. »Wir sind eine wartende Gemeinschaft«, sagt Rabbiner Berger, »wer glaubt, daß die Welt schon erlöst wäre, soll sich nur mal die ,Tagesschau' ansehen, dann wird er eines Besseren oder Schlechteren belehrt werden.«

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