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EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Die Kalorienbombe

Ein Kammerjäger überlebt in der Wüste - mit Hilfe von Termiten.
Von Daniela Schröder
aus DER SPIEGEL 8/2009

Theo Rosmulder, stolzer Chef von »Watts Pest Control«, kleines Büro am Havenstock Drive am Rande von Yarrawonga, 5800 Einwohner, ziemlich weit rechts unten auf der australischen Landkarte - Theo Rosmulder also hatte in den 26 Jahren seines Berufslebens vielleicht zwei oder drei oder vier Milliarden Termiten, Kakerlaken, Fliegen ausgeräuchert, vergiftet, vergast; auch Spinnen, Mäuse, Ratten, Wespen überlebten nur selten die Begegnung mit Theo, dem Kammerjäger, »mein Job ist Krieg«, sagt er.

Nur verspeist hatte Theo seine Feinde noch nie. Bis zu jenem Tag.

Sie waren schon seit zwei Monaten unterwegs auf Goldsuche, was in Australien ein beliebter Zeitvertreib ist, sechs Tagesreisen von zu Hause entfernt: Theo, seine Frau Pauline und zwei befreundete Paare aus Yarrawonga, jetzt mit ihren Trucks in einer Wüste in Westaustralien, auf den Ladeflächen Zelte, Campingzeug.

Goldsuchen, Grillen, Biertrinken: Man zieht ins raue Outback, schläft im Camp, fährt Tag für Tag nach dem Frühstück mit dem Metalldetektor durch die Wüste, sitzt abends am Lagerfeuer und trinkt Bier.

Für Theo war diese Goldsuche bislang weitgehend erfolglos verlaufen. Heute war sein letzter Tag, die letzte Chance.

Theo und seine Freunde Doug und Brian beschlossen, dass jeder allein gehen sollte, jeder in eine andere Richtung. Theo nahm nur seinen Metalldetektor mit, weder Kompass noch GPS, keine Streichhölzer, keine Wasserflasche.

Irgendwann blickte er auf die Uhr. Es war halb sieben, um fünf hatten sie sich wieder am Wagen treffen wollen. Wo war der Truck? In welcher Richtung ging es zurück? Wolken waren aufgezogen, plötzlich sah Theo in der Ferne Licht. Er lief darauf zu, doch das Licht verschwand.

Und Theo Rosmulder, 52 Jahre alt, seit 19 Jahren glücklich verheiratet mit der Krankenschwester Pauline, dieser Mann stand jetzt allein und orientierungslos in der schwarzen Wüstennacht.

Die Temperaturen im australischen Winter schwanken in der Wüste zwischen 16 und 21 Grad am Tag und 4 bis 9 Grad in der Nacht. Bald zittert er vor Kälte. Sein Proviant: ein runder Pfefferminzbonbon in seiner Hemdtasche, King Extra Strong, er hat nur einen.

Theo ist kein Stadtmensch, er weiß, worauf es in der Wüste ankommt, als Junge hat er im Buschland Kaninchen gejagt. Man muss die Angst kleinhalten, auf keinen Fall panisch werden.

Theo legt sich in eine Felsmulde, mit Zweigen deckt er sich zu. Einmal glaubt er, einen Motor hören zu können, dann ist es wieder still, nur ein Dingo heult.

Zwei, drei Stunden haben die Freunde auf Theo gewartet, dann fahren sie in die nächstgelegene Aborigines-Siedlung, rufen die Polizei an, melden Theo als vermisst. Die Nacht verbringen sie im Camp, erzählen den Frauen, die dort warten, was passiert ist. Pauline will in die Wüste, sofort, aber die anderen überzeugen sie, dass es jetzt keinen Sinn hat.

Am Morgen klettert Theo auf ein Felsplateau und schreibt mit dem Griff des Detektors HELP! in den Sand. Dann bleibt er dort sitzen und wartet auf Hilfe. Ab und zu holt er den Bonbon aus seiner Tasche und leckt daran, das verdrängt für kurze Zeit den schalen Geschmack in seinem Mund.

Zur selben Zeit beginnt die Suche. Polizisten, Feuerwehrleute, Goldsucher schwärmen aus, die Wüste nördlich von Laverton gilt als extrem gefährlich, viele Minenschächte gibt es hier.

Als Theo am Abend des ersten Tages von seinem Felsen klettert, ist ihm schwindlig, der Durst ist grausam. Durch den Sand laufen Termiten, schleppen Holz zu ihrem Hügel. Theo beobachtet sie, ihre weißen Körper, jedes Insekt nur wenige Millimeter lang.

Er zögert, aber nur kurz. Dann nimmt er einen Ast, schlägt die Spitze des Termitenbaus ab und steckt den Stock hinein, zieht ihn raus, ein Dutzend Termiten hängt daran. Theo fasst eine am Kopf, beißt den Körper ab, kaut, die Termite ist weich, schmeckt nussig. Die nächste, noch eine, noch eine, Theo isst alle Tiere vom Stock, zieht ihn immer wieder durch das Nest, er isst, bis der Schwindel nachlässt. Als Nachtisch knabbert er ein winziges Stück von seinem Pfefferminzbonbon.

100 Gramm Termitenfleisch enthalten knapp 40 Gramm Protein, insgesamt etwa 600 Kilokalorien; man verhungert nicht, wenn man Termiten isst. Genügend Wasser enthalten die Insektenkörper jedoch nicht, der Durst wird bald unerträglich. Theo kann nicht mehr schlucken, seine Zunge klebt geschwollen am Gaumen.

Inzwischen sind Spezialkräfte und zwei Suchhubschrauber eingetroffen. Mehr als 50 Helfer durchkämmen ein 200 Quadratkilometer großes Gebiet.

Am vierten Abend gibt Theo auf. Er sieht ein Loch in einer Felswand, dort schleppt er sich hinein und baut ein Steinmäuerchen auf, damit die Dingos seine Leiche nicht fressen. Er weint und betet, er verflucht Gott, dann betet er wieder. Als der Tag anbricht, würgt er das letzte Stück vom Pfefferminz herunter. Dann wünscht er sich, dass es schnell geht mit dem Sterben.

Wenige Stunden später finden ihn Aborigines aus Mulga Queen.

Kaum zu Hause, kehrt Theo in sein altes Leben zurück. Er tötet wieder Insekten, er vernichtet wieder Termiten, mit Sorgfalt und System. »Wenn ich den Job gut mache«, sagt er, »dann bleibt den Viechern keine Chance.«

DANIELA SCHRÖDER

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