Tödlicher Polizeieinsatz in Dortmund Drei Minuten zwischen Ansprechen und Schussabgabe

Kerzen stehen in der Nähe des Ortes, an dem am 8. August ein 16-Jähriger bei einem Polizeieinsatz starb (Aufnahme aus dem August)
Foto: Bernd Thissen / dpaVor knapp fünf Wochen starb in der Dortmunder Nordstadt der 16-jährige Mouhamed D. bei einem Polizeieinsatz. Das Geschehen, in dessen Verlauf der nach Deutschland geflüchtete Senegalese von vier Kugeln aus einer Maschinenpistole getroffen wurde und später in einem Dortmunder Krankenhaus starb, beschäftigt seit Wochen die Justiz in NRW. Auch in verschiedenen Ausschüssen des Düsseldorfer Landtags war die Tragödie Thema. Am Mittwoch wurden dort im Rechtsausschuss erstmals konkretere Angaben zum Zeitablauf gemacht. Demnach lag zwischen der ersten Kontaktaufnahme von den Polizisten vor Ort mit dem 16-Jährigen und den tödlichen Schüssen auf ihn drei Minuten.
Zitiert wurde dazu im Rechtsausschuss aus dem aus der »Leitstelle des Polizeipräsidiums Dortmund geführten polizeilichen Einsatzprotokoll«. Diesem Protokoll zufolge wählten die Betreuer um 16.25 Uhr den Notruf, gegen 16.30 Uhr trafen erste Polizeifahrzeuge am Ort ein. Sieben Minuten später klärten Beamte »den Innenhof auf«. Um 16.42 Uhr konnten sich Polizisten D. »auf drei bis vier Meter nähern, ohne gesehen zu werden«. Um 16.44 Uhr nahm der »Einsatztrupp« Kontakt zu D. auf. Um 16.46 Uhr sollte »vorgerückt werden«, D. wurde mit Reizgas besprüht. Eine Minute später fielen sechs Schüsse.
Bereits in den letzten Tagen hatte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) Zweifel an dem Polizeieinsatz angemeldet. Aus dem, was bislang an Ermittlungserkenntnissen der Staatsanwaltschaft kommuniziert worden sei, »drängt sich bei mir schon der Eindruck auf, dass bei diesem Einsatz einige Dinge nicht einwandfrei gelaufen sein können«, sagte Reul in Düsseldorf. Der ermittelnde Oberstaatsanwalt Carsten Dombert sagte dem SPIEGEL: »Der Einsatz ist meiner Meinung nach nicht richtig abgelaufen und ich habe Zweifel daran, dass hier verhältnismäßig gehandelt worden ist.« Es seien, so Dombert, nicht die mildesten Mittel gewählt worden.
Der psychisch offenbar angeschlagene Mouhamed D. lebte erst wenige Tage in einer Jugendhilfeeinrichtung auf einem Kirchengelände in der Dortmunder Nordstadt. Als er sich am 8. August in dem Innenhof ein Messer an den eigenen Bauch hielt, versuchten Betreuer aus der Jugendhilfeeinrichtung zunächst, mit ihm in Kontakt zu kommen. Als das nicht gelang, riefen sie wegen vermuteter Eigengefährdung die Polizei zu Hilfe, der Einsatz wurde als »Suizidversuch« eingestuft.
Der Innenhof ist ein nach außen durch Zäune und Mauern abgeriegelter Bereich. Was in den letzten Wochen die Frage aufwarf, warum die Situation nicht statisch gehalten wurde, um auf ein im Umgang mit Messern besser ausgerüstetes Spezialeinsatzkommando, auf psychologische Hilfe oder einen Dolmetscher zu warten. Der Einsatzleiter entschied sich anders, er sah »eine unmittelbare Lebensgefahr durch Selbstverletzung«, wie es in einem Ministeriumspapier heißt.
Tondokument wird weiter ausgewertet
D. soll auf Englisch und Spanisch von den Polizisten angesprochen worden sein. Ob er dabei überhaupt aufgefordert worden war, das Messer niederzulegen, wird aktuell noch ermittelt. Von dem Einsatz selbst gibt es keine Videoaufnahmen, die Polizisten hatten ihre Bodycams nicht eingeschaltet. Was es gibt, ist das Video eines Anwohners, das jedoch erst nach den Schüssen beginnt. Weiter gibt es den Mitschnitt des Notrufs des Betreuers. Das Handy des Betreuers blieb »bis einschließlich der Schussabgabe« eingeschaltet, wie NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) erklärt hatte. Dieses Tondokument wird aktuell vom Bundeskriminalamt ausgewertet.
Unklar ist bis heute unter anderem, ob D., der nach dem Besprühen mit Reizgas aufgestanden war und sich auf die Polizisten zubewegt haben soll, das Messer in Richtung der Beamten hielt. Das Spray, das zum Einsatz kam, war offenbar im April 2022 abgelaufen. Ein Gutachten soll jetzt klären, inwieweit das Reizgas noch wirksam war.
Nach dem Pfefferspray-Einsatz wollten zwei Beamte mit sogenannten Tasern D. aufhalten. Ein Beamter traf nicht richtig. Der zweite Beamte traf D. zwar mit beiden Projektilen des Tasers. Ob bei D. dadurch eine stoppende Wirkung erreicht wurde, wird noch untersucht. Aktuell wird gegen fünf der zwölf Beamten, die zum Zeitpunkt der Schüsse vor Ort im Einsatz waren, ermittelt. Gegen den Schützen, der vom Dienst suspendiert ist, steht unter anderem der Verdacht der Körperverletzung im Amt mit Todesfolge im Raum.