Drama bei Zugspitz-Lauf "Ich habe brutales Glück gehabt"
SPIEGEL ONLINE: Herr Strackerjan, woran lag es, dass bei dem Extremlauf auf der Zugspitze so viele Teilnehmer erschöpft zusammenbrachen oder den Lauf abbrechen mussten?
Michael Strackerjan: Zunächst einmal: Von den knapp 600 Teilnehmern waren die meisten sehr gut trainierte Sportler. Wer diesen extremen Berglauf macht, muss auch in der Lage sein, einen Marathon zu laufen. Das Wetter war das Problem. Regen und Schnee sind für solche Athleten kein Hindernis - aber wir haben den Wind unterschätzt. Er hat unsere Körper dermaßen ausgekühlt, dass wir unsere Kraft verloren.
SPIEGEL ONLINE: Sie liefen an der Spitze mit ...
Strackerjan: ... und habe es auf die letzten hundert Höhenmeter nur mit Unterstützung der Bergwacht geschafft. Denen gebührt großes Lob! Wenn die Bergwacht nicht gewesen wäre, hätte es mehr als zwei Tote gegeben.
SPIEGEL ONLINE: Inwiefern haben Ihnen die Rettungskräfte geholfen?
Strackerjan: Die haben mich gepackt, hochgeführt und die ganze Zeit mit mir gesprochen. Ich habe zwar die kalten Hände und Füße gespürt, aber erstmals erfahren, wie es ist, wenn der Körper auf einmal nicht mehr das tut, was der Kopf will. Nie hätte ich gedacht, dass Wind solche Auswirkungen auf den menschlichen Körper haben kann. Man müsste Arzt sein, um das zu wissen.
SPIEGEL ONLINE: Die Läuferin Ellen Clemens ist Notärztin, hat diesen Zugspitzen-Extremlauf bereits dreimal gewonnen und musste dieses Mal selbst abbrechen ...
Strackerjan: ... ja, die ist vor mir gekrochen und musste mit zwei Leuten von der Bergwacht zurückgeführt werden.
SPIEGEL ONLINE: Sie erholte sich sehr schnell und packte dann als Helferin mit an. Wie erging es Ihnen nach Ihrer Rettung?
Strackerjan: Ich war nicht mehr Herr meiner Gerätschaft. Man hat mich da oben in einen Whirlpool gesetzt. Ich weiß nicht, wie lange ich darin saß. Ich hatte mir davor nicht mal mehr alleine die Schuhe ausziehen können.
SPIEGEL ONLINE: Auf der Gipfelstation wie an der Strecke sollen sich dramatische Szenen abgespielt haben, können Sie das bestätigen?
Strackerjan: Einer saß neben mir im Whirlpool, der wusste nicht mehr, wie er heißt. Ich habe viele gesehen, denen es mindestens so dreckig ging wie mir. Stellen Sie sich vor, Sie haben Schüttelfrost und versuchen, eine heiße Suppe zu essen. Da bekommen Sie nicht viel auf den Löffel.
SPIEGEL ONLINE: Trägt der Veranstalter Ihrer Meinung nach Verantwortung für das tragische Ende des Laufs? Hätte er den Lauf absagen oder abbrechen sollen?
Strackerjan: Für dieses Unglück kann man niemanden verantwortlich machen - weder die Läufer noch den Veranstalter. Als mich einer der Bergwachtler in den Arm genommen hat, hörte ich, wie er seinen Kollegen zurief: "Macht's zu, die kriechen ja alle nur noch hoch!" Und wir Läufer sind keine Anfänger, sie haben also entsprechend reagiert. Bereits beim Start warnte uns der Veranstalter und wiederholte mehrmals, man möge mit Regenjacke, Mütze und Handschuhen laufen.
SPIEGEL ONLINE: Die Frage bleibt, ob man sich bei der Witterung mit entsprechender Kleidung hätte schützen können?
Strackerjan: Ich trug ein Laufunterhemd, Laufshirt, eine knielange Hose, Handschuhe - das volle Programm. Aber wir waren komplett durchnässt. Ich habe gehört, 80 Prozent der Läufer waren nicht den Temperaturen angepasst gekleidet. Geschützt hätten vielleicht wasserfeste Schuhe, wasserfeste Kleidung, wasserfeste Handschuhe und, und, und - aber so läuft man keinen Berg rauf! Da kann man ja gleich im Pelzmantel hochklettern.
SPIEGEL ONLINE: Hatten Sie mit schlechtem Wetter gerechnet?
Strackerjan: Natürlich habe ich wie alle Bergsportler die Tage davor immer das Wetter überprüft. Aber den Wind kann man nicht abschätzen. Das nächste Mal werden wir das besser abklären müssen, vielleicht mussten wir unser Lehrgeld zahlen.
SPIEGEL ONLINE: Machen Sie sich Vorwürfe?
Strackerjan: Ich gebe zu, ich habe Fehler gemacht. Ich habe mich regelrecht in einen Rausch gerannt: Ich wollte unter die ersten 50 kommen. Auf einmal war ich zehnter, das hat mich natürlich Kraft gekostet.
SPIEGEL ONLINE: Es soll auch uneinsichtige Sportler gegeben haben, die sich nicht abhalten ließen. Können Sie das bestätigen?
Strackerjan: Die gibt es immer und überall. Jeder Läufer weiß, dass er für sich selbst die Verantwortung trägt.
SPIEGEL ONLINE: Worin liegt die Faszination, sich als Sportler solch einer extremen Herausforderung zu stellen?
Strackerjan: Wir sind keine Wahnsinnigen! Ich will niemandem etwas beweisen. Ich mache das seit 15 Jahren aus Spaß, will wissen, wie fit ich bin. Bei gutem Wetter laufe ich die Zugspitze in zwei Stunden 30 Minuten hoch. Bei einem 4,66-Kilometer-Berglauf kürzlich lief mit mir ein 81-Jähriger den Berg hoch, freilich hat er dreimal so lange gebraucht, aber das ist doch wunderbar. Beim Bergsport kann man sterben, aber beim Fußball auch.
SPIEGEL ONLINE: Wann haben Sie erfahren, dass zwei Läufer ums Leben kamen?
Strackerjan: Erst als ich wieder im Tal war. Ich sah auf meinem Handy, dass meine Frau angerufen hatte. Das war ungewöhnlich, normalerweise melde ich mich bei ihr, wenn alles gut gegangen ist. Sie hatte sich Sorgen gemacht. Von ihr erfuhr ich, dass zwei Sportler am Berg gestorben sind.
SPIEGEL ONLINE: Warum haben Sie den Lauf nicht abgebrochen?
Strackerjan: Der Wille eines Sportlers ist es, ins Ziel zu kommen. Keiner macht mit, um abzubrechen. Bis zur Sonnalpin-Station ging es für mich, dann dachte ich: Die letzten 1,3 Kilometer schaffste auch noch. Aber ich spreche für alle Sportler, wenn ich sage: Hätten wir gewusst, dass der Wind so peitscht, wären wir nicht gelaufen. Ich weiß, dass ich brutales Glück gehabt habe.
Das Interview führte Julia Jüttner