GLÜCKSSPIEL Durchschnitt im Schlitten
Horst Behrend betreibt sein Geschäft in einer Art, die eher an Stasi-Geschichten als an Heimarbeit erinnert. In der abgedunkelten Kammer einer Etagenwohnung im Münchner Stadtteil Solln empfängt der Hausherr morgens um zehn im Ausgehjackett mit roter Seidenkrawatte Besucher.
Harry Böhm kommt in Jeans und Freizeithemd. Die Kluft seines Gastgebers schüchtert ihn etwas ein. Behrend, 50, weist den jungen Mann auf einen Stuhl. Er knipst die Tischlampe an und setzt eine getönte Pilotenbrille auf. So verschwörerisch, wie die beiden Männer sich gegenübersitzen, könnte es um Plutonium oder um Waffengeschäfte gehen. Doch der Dunkelmann, der seine Ware mit der Eleganz eines Topagenten offeriert, legt Spielkarten auf den Tisch, alle vier Farben, von Karo zwo bis Kreuz As. »Wir gehen«, sagt Behrend und blickt seinem Kunden in die Augen, »von einer Durchschnittsverteilung im Schlitten aus.«
Böhm studiert Philosophie und jobbt sich so durch - kein Draufgängertyp, aber etwas Geld und ein wenig Nervenkitzel könnte der Vater zweier Kinder gut gebrauchen. Darum ist er hergekommen.
Diplomvolkswirt Behrend bietet Black-Jack-Kurse an. So heißt die Kasinovariante des Kartenspiels 17 und 4. Dabei muß der Spieler nach und nach vom Croupier, der hier Dealer heißt, so viele Karten anfordern, daß er möglichst nah an 21 Punkte kommt. Wer sich überkauft, verliert seinen Einsatz an die Bank.
»Black Jack ist das einzige Kasinospiel«, bestätigt Wolfgang Müller, technischer Direktor der Spielbank Garmisch-Partenkirchen, »in dem sich die Gewinnwahrscheinlichkeit optimieren läßt.« Da setzt Kartenprofi Behrend an. Daß er seine Schüler in einem Tag fit für Las Vegas trainiere, sei vielleicht »ein bißchen viel erwartet«, meint der gebürtige Hamburger. Aber garantiert mache er aus jedem in fünf, sechs Stunden Einzelunterricht einen Black-Jack-Strategen, »der auf Dauer gegen die Spielbank gewinnt«.
Das »Basisseminar« schließt die beachtlichen Entertainer-Qualitäten des Pri-
vatlehrers und eine kuschelige Atmosphäre ein. Die Vorlesung hält der Heimdealer zwischen Seidenblumen, Kunstpflanzen und Dutzenden von Kerzenleuchtern ab. Der Schulungstag kostet 1500 Mark - ein Einsatz, den die meisten Kunden des Glücksspiel-Lehrers schon mal an einem Kasinoabend verzocken.
Unternehmergattinnen, Ärzte, Anwälte, Vermögensberater - seit Behrend im Fernsehen aufgetreten ist, setzen gutbetuchte Kartenbesessene aus dem ganzen Bundesgebiet auf die Trümpfe des »VIP-Trainers« (handelsblatt). Behrend: »Auch reiche Leute verlieren nicht gern.«
Weniger Bemittelte wie Harry Böhm, die es kaum abwarten können, daß sich ihre Investition am grünen Tisch bezahlt macht, werden von dem frühpensionierten Verwaltungsbeamten im Dealer-Kostüm auf eine harte Geduldsprobe gestellt. Behrend, dem es schmeichelt, wenn er »Black-Jack-Professor« genannt wird, verrät ein Insiderwissen, das Harry, der früher »mit Opa 66 gespielt« hat, schon mitbringt: »Die Zwei zählt zwei, die Drei zählt drei, das As zählt elf oder eins.«
Die ganz geheimen Hintergrundinformationen bewahrt der agile Heimarbeiter, den ein pathologisches Ohrensausen vor fünf Jahren in den Vorruhestand zwang, zwischen Krimis und Spionagethrillern auf. Klarsichtfolie für Klarsichtfolie blättert der passionierte Mathematiker Schautafeln und Merksätze aufs grüne Tuch, die er sich nicht selber ausgedacht, aber aus Handbüchern, Statistiken und Glücksspiel-Ratgebern zusammengetragen hat.
»Die Frage ist nie, ob ich bei 17 noch kaufe«, erklärt Behrend auch schlichte Regeln im Dozententon, »sondern bei welcher Hand, hart oder weich.« Schüler Böhm ist inzwischen derart fortgeschritten, daß er begreift: »Eine Zehn plus sieben ist hart, As plus sechs ist weich, weil das As statt elf Punkten auch einen Punkt zählen kann.« Der Mann ist reif für die Formel.
Behrend präsentiert seinen letzten Trumpf: In vier Tabellen, nicht größer als ein DIN-A5-Blatt, hat er die Black-Jack-Synthese zusammengefaßt. Schwarze und weiße Kästchen zeigen für jede denkbare Kartenverteilung an, ob der Spieler noch eine Karte nehmen, doppeln, teilen oder gar nichts machen soll - die Grafik paßt in jeden Ärmel, »muß man aber im Kopf haben«, sagt Behrend: »Wenn mich nachts einer weckt und ruft: ,16 gegen 10'', frage ich prompt zurück: ,Steht meine 16 mit zwei oder drei Karten?''«
Der Meister räumt ein, daß der Glücksanteil trotz aller Strategie immer mit von der Partie ist: »Was ich für Karten kriege, kann ich nicht vorhersagen.« Auch eignet sich Black Jack schlecht, die Bank zu sprengen; anders als beim Roulette ist der Einsatz in Deutschland auf kleinere Beträge begrenzt, an kleinen Tischen auf 500, an großen auf 1000 Mark pro Spiel. Und die Bilanz, so Behrend, falle erst ab »einer gewissen Ereignismenge, sagen wir 1000 Spiele«, stabil zugunsten des Spielers aus.
In den USA werden Kasinogäste, die mit so einem System gewinnen, dennoch konsequent des Hauses verwiesen. In Deutschland sind die Spielbanken großzügiger, weil echte Könner selten sind. Allerdings kann sich Behrend in bayerischen Kasinos schon nicht mehr blicken lassen. Denn er hat es nach einigen tausend Runden zu einer »kleinen Residenz am Bodensee« gebracht.
Bis dahin muß Böhm noch ein paar Kartenstapel üben. Seine Frau hat ihm zu Hause die Kombination wie Vokabeln abgefragt. 300 Partien hat er sich selber gelegt und 20 Jetons Gewinn gemacht.
Sein erster Angriff auf die Spielbank Garmisch-Partenkirchen bleibt allerdings in der Vorbereitung stecken. Böhm hat ein Pils getrunken und »mit feuchten Händen« 400 Mark umgetauscht. Doch außer Harry will niemand Black-Jack spielen, der Tisch bleibt geschlossen. Nichts geht mehr.
* Sharon Stone (r.) 1995 in »Casino«.