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Artikel 51 / 116

Ein Blick ins Paradies

Von Martin Doerry und Doja Hacker
aus DER SPIEGEL 29/1994

SPIEGEL: Herr Sombart, an jedem Sonntagnachmittag machen Sie Ihre Berliner Wohnung zum Salon. Was ist der Zweck dieser Übung?

Sombart: Ich will ganz einfach Menschen zusammenbringen und Ideen; vertreten sind alle Nationen, alle Wissenschaften. Mädchen treffen Männer, die Alten treffen die Jungen. Nur die Mischung ist jeden Sonntag eine andere, das ergibt dann jeweils eine mehr oder weniger explosive Gemengelage.

SPIEGEL: Welche Rolle nehmen Sie selbst dabei ein, stehen Sie am Rande oder im Mittelpunkt?

Sombart: Ich habe eine dienende Funktion, ich muß dafür sorgen, daß die Gespräche in Gang kommen und meine Gäste sich nicht langweilen. Das heißt: Ich spiele eigentlich die Rolle der einladenden Dame. Mein Vorbild, wenn Sie so wollen, ist der Salon der Juliette Recamier im Paris des 19. Jahrhunderts. Sie stand zwar im Mittelpunkt des Salons, aber nicht im Zentrum der Gespräche, die dort geführt wurden.

SPIEGEL: Nun liegt die große Zeit der Salons schon etwas zurück. Lieben Sie die Attitüde des Unzeitgemäßen?

Sombart: Keineswegs. Wenn ich in meinen Büchern von den berühmten Salons der Vergangenheit in Berlin und Paris erzähle, wenn ich selber dazu einlade, dann nur deswegen, weil ich daran glaube, daß diese Formen der Geselligkeit wieder auftauchen werden. Das ist kein nostalgisches Spielchen, sondern die Suche nach Lebensformen der Zukunft.

SPIEGEL: Worin unterscheidet sich denn ein Salon von den Vergnügungen der Society, von dem also, was die Klatschspalten der Boulevard-Presse füllt? _(Das Gespräch führten die Redakteure ) _(Martin Doerry und Doja Hacker. )

Sombart: Das Gewebe der alten Oberschicht ist in Deutschland durch Krieg und Nachkriegszeit zerstört worden. Die Spitzen der Gesellschaft zogen sich in ihre Schlösser und Bungalows zurück. Dafür bildete sich eine Pseudo-Gesellschaft heraus, die Schickeria also . . .

SPIEGEL: . . . die in Ihrem Salon natürlich nichts zu suchen hat?

Sombart: Ich habe nichts gegen die Schickeria. Das sind Leute, die sich zu einer Art Wanderzirkus zusammengetan haben, um ihre Feste zu feiern. Das ist total legitim . . .

SPIEGEL: . . . aber?

Sombart: Aber diese Menschen repräsentieren nicht die »Gesellschaft«, sie simulieren die Gesellschaft. Sie vertreten nicht die großen Vermögen, sie haben weder Macht noch besondere Talente. Wer diese Kriterien heutzutage erfüllt, hält sich lieber im Hintergrund. Wo die Schickeria ist, ist nicht oben, sondern da ist die Schickeria.

SPIEGEL: Als Sie 1951 nach Paris kamen, hat Sie der Germanist Pierre Bertaux gefragt, wen Sie denn kennenzulernen wünschten. Und Ihre Antwort, so erinnern Sie sich in den »Pariser Lehrjahren«, lautete: »Bedeutende Männer und schöne Frauen«.

Sombart: Ich habe nicht gesagt: Schöne Männer und bedeutende Frauen. Darauf wollen Sie doch hinaus.

SPIEGEL: Richtig. Mit den Männern unterhält man sich, mit den Frauen treibt man andere Dinge.

Sombart: Also, ich beschreibe den geistigen Gewinn, den ich aus dem Umgang mit bedeutenden Männern gezogen habe, Pierre Bertaux zum Beispiel. Aber diejenige, die mich begünstigt und beschützt hat, die mich in die Pariser Gesellschaft einführte - das war Bertaux'' Frau Denise. Diese Rolle beherrschen nur Frauen. Und sie ist das zentrale Thema meines Buches: die Frau als Heilsbringerin.

SPIEGEL: Es bleibt der Eindruck einer klassischen Aufgabenteilung: Die Frau inszeniert, sorgt für Atmosphäre - der Mann redet, spricht bedeutende Dinge.

Sombart: Ich weiß, daß die Feministinnen unter meinen Freundinnen es als Häresie betrachten, wenn man überhaupt Männer und Frauen unterscheidet. Aber da bin ich in der Tat ganz altmodisch, biologistisch, sexistisch. Ich glaube an den fundamentalen Unterschied von Männern und Frauen. Und so verstehe ich auch ihre unterschiedlichen Funktionen in der Gesellschaft.

SPIEGEL: Demnach bestimmt sich die Frau nur über ihre Sexualität. Die Arbeit, der Beruf, wäre sekundär.

Sombart: Auch die Männer finden zu sich selbst erst über ihre sexuelle Emanzipation. Und die steht ihnen noch bevor. Die Männer sind doch ebenfalls Opfer der patriarchalischen Gesellschaftsordnung.

SPIEGEL: Unser Mitleid hält sich in Grenzen.

Sombart: Denken Sie an die Klischees: Ein Mann weint nicht, ein Mann ist hart, muß in den Krieg ziehen. In solchen Forderungen mögen einige ihr eigenes Bild von sich selbst wiederfinden, die meisten leiden darunter. Sehr viele Künstler, gerade die Bohemiens des 19. Jahrhunderts, haben gegen diesen martialischen Männertypus rebelliert - vergeblich.

SPIEGEL: Fühlen Sie sich selbst auch als Opfer dieses Ideals?

Sombart: Gewiß. In dieser kriegerisch orientierten Männergesellschaft ist ein Typ wie ich doch gar nicht vorgesehen. Der Mann als Hedonist, als Erotiker, als Künstler, als zum Teil weibliches Wesen muß erst noch zur Anerkennung gebracht werden, was nur durch weibliche Strategien gelingen kann. Madame Recamier hat das in ihrem Pariser Salon vorgemacht, sie hat die Normen der Männergesellschaft untergraben. Die Emanzipation des Mannes zum Menschen ist die Aufgabe der Frau.

SPIEGEL: Aber das Image des immer starken, immer harten Mannes ist doch spätestens in den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts in Verruf geraten.

Sombart: Das haben wir vielleicht geglaubt. Es schien tatsächlich für einen Moment so, als seien die Ideale der französischen Utopisten, nehmen Sie die Saint-Simonisten, in die Tat umgesetzt. Doch dann kamen schwere Rückschläge, auch die Frauenbewegung hat ja einige Niederlagen einstecken müssen. Ich glaube fest an den Fortschritt, aber er läßt sich viel Zeit.

SPIEGEL: In Ihren Pariser Erinnerungen führen Sie eine Reihe von jungen Frauen vor, die ihre Sexualität voll ausleben, die ihre Bedürfnisse souverän selbst bestimmen. Das könnte als ein Loblied auf die emanzipierte Frau verstanden werden. Merkwürdig ist nur, daß dieser Typ einer klassischen Männerphantasie entspricht, nämlich dem Bild der Frau, die immer bereit ist, die immer will und immer kann.

Sombart: Ich erzähle von Madame de Stael oder Juliette Recamier, von Frauen also, die sich ihre sexuelle Freiheit _(* Gemälde von Jacques-Louis David. ) genommen haben - und damit über die Macht verfügten, die Männer zu erlösen. Im Umgang mit diesen Frauen lernen die Männer, daß sie sich nicht mehr den Schädel einschlagen, sie lernen, zärtliche, gesittete Menschen zu sein. Nur: Ist das eine Männerphantasie? Eine Wunschvorstellung? Ja, vielleicht. Aber nicht im Sinne einer Abwertung, sondern einer Aufwertung der Frau.

SPIEGEL: Ob negativ oder positiv: Es legt die Frau auf ein Idealbild fest, auf eine Rolle, die sich mit solchen Phantasien prächtig verträgt.

Sombart: Darin sehe ich gar keinen Widerspruch, es geht doch um die religiöse Dimension der Sexualität. Die erste Frage, die ein Mann einer Frau stellt, wenn er mit ihr schlafen will, wird - unausgesprochen oder ausgesprochen - immer lauten: »Willst du meine Göttin sein?« Dadurch wird ein quasi alchimistischer Prozeß der Steigerung eingeleitet, der aus dem erotischen Erlebnis eine existentielle Grenzerfahrung macht.

SPIEGEL: Ist diese Überhöhung nicht in Wahrheit eine Unterwerfung der Frau?

Sombart: Aber nicht doch! Wenn einer sich unterwirft, ist es der Mann. Der Mann beugt sich der Macht der Frau, die er als Überlegene anerkennt. Das finden Sie bei den Minnesängern, bei Dante, bei Goethe. Immer bringt die Frau das Heil. Der Mann allein ist der Welt schutzlos ausgeliefert.

SPIEGEL: Womöglich verklärt der Mann die Frau als Göttin - und betrachtet sie doch als seine Beute.

Sombart: Keineswegs. Erinnern Sie sich an die Geschichte vom »Le Roi Rene«, einem Pariser Etablissement, das ich eines Tages mit einer Freundin besuchte. Dort gab sich eine junge Frau, vor den Augen eines voyeuristischen Publikums, nacheinander mehreren Männern hin. Ich war entsetzt und dachte: Diese arme Frau, das ist ja furchtbar, vergewaltigt, zum Objekt gemacht . . .

SPIEGEL: Haben Sie das damals wirklich gedacht, oder glauben Sie heute, daß Sie damals so gedacht haben müßten?

Sombart: Nein, wirklich. Ich erinnere mich noch sehr gut an das Gespräch mit meiner Begleiterin auf der Rückfahrt im Taxi. Ich erzählte ihr von meinen Empfindungen - und sie erklärte mir: »Da liegst du völlig falsch, wir waren in einem Tempel weiblicher Lust. Das war nicht eine Inszenierung von Männern, sondern von Frauenphantasien. Das Mädchen war kein Opfer, sie war die Priesterin eines heidnischen Mysterienkultes.« Sie hatte recht.

SPIEGEL: Sie haben einmal gesagt: »Eine Stadt, in der keine Orgien stattfinden, ist eine tote Stadt.« Sie leben nun seit mehr als zehn Jahren in Berlin. Ist diese Stadt eine »tote Stadt«?

Sombart: Berlin ist - im Gegensatz zu Paris - keine erotische Stadt. War es nie. Die Frauen spielten nie eine Rolle. Mein Blick auf Berlin ist insgesamt eher pessimistisch. Das hängt mit der wachsenden Kriminalität und dem Einströmen der russischen Mafia zusammen, vor allem aber ist die Zusammenführung der beiden Stadtteile mit zwei völlig verschiedenen Lebenskulturen ein großes Problem. Außerdem wendet sich der Westen von dieser Stadt ab. Das ganze Gerede von der Hauptstadt ist, fürchte ich, nur ein Lippenbekenntnis. Es will doch keiner nach Berlin. Oder?

SPIEGEL: Bundestag und Bundesregierung haben den Umzug fest beschlossen.

Sombart: Beschlüsse können rückgängig gemacht oder verschoben werden.

SPIEGEL: Was also wird aus Berlin?

Sombart: Es tut mir leid, aber ich muß, was die Zukunft Berlins betrifft, immer an eine ostsibirische Stadt denken oder an irgendeine Megalopolis, die mit dem historischen Berlin wenig zu tun haben wird. Das gilt aber für die anderen großen mythologischen Städte, für Paris oder New York, genauso.

SPIEGEL: Ihre Kultur-Soziologie beruht auf dem Bild von der Gesellschaft als Pyramide. Und die »Kultursphäre«, so schreiben Sie, liege nur im »Gipfelbereich«. Gesetzt den Fall, diese Theorie stimmt: Wird diese klare Struktur immer bestehenbleiben?

Sombart: Ja. Es hat sich im 18. Jahrhundert eine Lebensform für eine Minderheit herausgebildet, die man als die eines Menschen allein würdige ansehen kann: das Leben im Schloß. Für unseren Kulturkreis ist das Leben in einem Schloß der Inbegriff stilvoll gesitteter höherer Lebensformen. Es ist das Ziel jedes sozialen Aufstiegs, ein unübertroffenes Lifestyle-Modell.

SPIEGEL: Ihr großes Vorbild Charles Fourier hat schon im frühen 19. Jahrhundert den schönen Plan verfolgt, alle Menschen in Schlössern unterzubringen, in den sogenannten Phalansteres. Er ist kläglich gescheitert.

Sombart: Aber die Idee lebt, die Utopie der Zukunftsgesellschaft. Solange es Schlösser gibt, können wir sagen, daß das Paradies auf Erden existiert. Natürlich werden immer nur einige Menschen im Schloß leben, nur einige in der Kultursphäre leben können.

SPIEGEL: Und für den großen Rest bleibt die Barbarei?

Sombart: Sinn hat das Leben tatsächlich nur für den, der in den höheren Sphären der Gesellschaft, in der Spitze der Pyramide, residiert.

SPIEGEL: Sie können doch nicht all jenen Menschen, die nicht im Schloß wohnen, den Sinn des Lebens absprechen.

Sombart: Ich weiß, es gibt eine Tradition der linken Sozialphilosophie, die diese Erkenntnis einfach leugnet. Die Spitze der Pyramide ist der soziologische Ort, an dem sich die Besten und das Beste, das in einer Gesellschaft möglich ist, versammeln. Der Ort, wo Macht und Reichtum und Geist zusammentreffen. In dieser Sphäre allein lebt das Individuum auf der Höhe seiner Zeit.

Es ist der Ort der optimalen Selbstverwirklichungschance im Diesseits, der aber jedem Menschen zugänglich ist.

SPIEGEL: Sie bleiben also dabei: Das Leben der Massen ist sinnlos?

Sombart: Nun, ganz ohne Ironie sage ich das sicher nicht. Wenn Sie den höchsten Maßstab ansetzen, etwa den Rolls-Royce, dann ist alles darunter nichts. Aber wenn Sie sagen: Der VW-Golf, gefahren von Millionen Menschen, ist doch eine phantastische Leistung, verglichen mit den Reisebedingungen vor 100 Jahren - dann ist auch das vollkommen richtig. Diese Spitzenträume, Schloß oder nicht Schloß, sind nur extreme utopische Phantasien, die wir als Stachel im Status quo pflegen müssen.

SPIEGEL: Herr Sombart, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Y

Das Gespräch führten die Redakteure Martin Doerry und Doja Hacker.* Gemälde von Jacques-Louis David.

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