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ERNÄHRUNG Ein kleiner, gallischer Käse

Zwei Jahre tobte in Frankreich ein giftiger Krieg um den Camembert. Aus Kostengründen wollte die Großindustrie jahrhundertealte Rezepturen verändern und machte Jagd auf kleine Betriebe. Doch die Gesetze der globalen Welt sind wandelbar: Am Ende siegte die Tradition. Von Ullrich Fichtner
aus DER SPIEGEL 8/2009

Als Luc Morelon noch fest daran glaubte, dass dieser Krieg zu gewinnen sei, empfing er einmal im 30. Stockwerk des Tour Montparnasse, der Eiffelturm stand im Morgennebel, und in der Fläche schimmerten trügerisch friedlich die Dächer von Paris. Morelon trug einen Schlips, gemustert mit kleinen bunten Ziegen, ein barocker Mann, schwer und weißhaarig saß er hinter einem Laptop, gefüllt mit den Daten und Charts seines Konzerns Lactalis, Europas größtem Käseproduzenten: 125 Fabriken weltweit, 32 000 Beschäftigte, 9,6 Milliarden Euro Jahresumsatz. Ein globaler Gigant, ein guter Feind.

Morelon hatte ein aufreibendes Jahr hinter sich als Sprecher von Lactalis, es wurde schon wieder Winter, und der mächtige Konzerndirektor, zuständig für die Kommunikation und die Desinformation, hatte sich längst daran gewöhnt, in diesem Spiel als der Schurke zu gelten. Die ersten Interviewanfragen lehnte er barsch ab, schrieb, ohne die üblichen Floskeln und französischen Schnörkel, er stehe für weitere Attacken der »selbsternannten Hüter der Tradition« nicht mehr zur Verfügung, er könne das Lied von den »Kleinen gegen die Großen« nicht mehr hören und auch nicht das Gerede vom »Camembert-Krieg«.

Aber es ist ein Krieg. Oder es war einer, denn er endete dieser Tage mit einer totalen Kapitulation, einer demütigenden Niederlage für Luc Morelon und für Lactalis, nach vielen schmutzigen Scharmützeln und Nachhutgefechten, die fast zwei Jahre lang lärmend geschlagen wurden. Im März 2007 hatte das Elend begonnen, Lactalis und die Großkooperative von Isigny-Saint-Mer verkündeten in konzertierter Aktion den Ausstieg aus der Großproduktion von Rohmilch-Camembert, und das klingt nach nicht viel. Aber es war der erste Schuss im normannischen Käsekrieg, ein donnernder, unerwarteter Kanonenschlag.

Infrage stand mit einem Mal der berühmteste Käse der Welt, es wackelte ein dicker Baustein im verwinkelten Gebäude des französischen Nationalstolzes, es ging um eine kulinarische Majestät, die zum alten Klischee, aber auch zum Selbstbild der Franzosen gehört wie die Baskenmütze, die Weinflasche und das Baguette. Lactalis und Isigny hatten bis dahin mehr als 80 Prozent des echten, wahren, einzigen »Camembert de Normandie« produziert, 10 000 von 13 000 Tonnen Jahresausstoß, 42 von 52 Millionen Schachteln Käse. Dass sie nun sagten, nach teils über hundert Jahren Tradition, es gehe nicht mehr, es sei Gefahr im Verzug, der Rohmilch-Camembert gefährde die Gesundheit, glich einer Kriegserklärung.

Frankreichs Zeitungen und Magazine berichteten anfangs fast so groß, fast so aufgeregt über die Affäre, als hätten Terroristen mitten in Paris zugeschlagen. Wirklich war von einem Attentat die Rede, einem Anschlag auf die kulinarische Tradition, einem Mordversuch an den kleinen Camembert-Produzenten. Es ging jedenfalls von Anfang an nicht um Käse, sondern um Kultur. Nicht um Camembert, sondern ums Große und Ganze.

Luc Morelon, der die Entscheidung des Konzerns verkaufen musste, wurde zur Symbolfigur einer anonymen Industrie, die aus Profitinteressen Hand anlegte an Frankreichs heilige Güter. Denn Lactalis, Isigny, sie beließen es nicht dabei, aus dem Markt für Rohmilch-Camembert auszusteigen und ihn den anderen stillschweigend zu überlassen. Vielmehr agierten sie von Beginn an so, als wollten sie den ganzen Marktplatz niederbrennen.

Bei den zuständigen Behörden beantragten sie bald, die ruhmreiche Camembert-Charta - gerichtsfest niedergelegt, gesetzlich geschützt als AOC, als Ursprungsbezeichnung auch nach europäischem Recht - in ihrem Sinne umzuschreiben. Sie wollten nicht nur Rohmilch, sondern künftig auch thermisierte, mikrofiltrierte, industriell aufbereitete, billigere Milch für die Produktion von original normannischem Camembert zulassen. Sie führten sich auf, Franzosen in Frankreich, wie früher nur die ahnungslosen, genussfernen Ausländer von der Europäischen Union, die immer schon alles pasteurisieren, hocherhitzen, vernichten wollten.

Oder wollten sie nicht? »Es ist der franko-französische Wahnsinn«, sagte Morelon das eine Mal, als er in seinem 30. Stockwerk empfing, er ist ein Mann, den man nicht leicht treffen kann und der sich nie fotografieren lässt, und bei der Begegnung kochte er, innerlich. »Wir wollen die Tradition umbringen? Wir?«, rief er. »Wir sind, Monsieur, der größte Produzent von Traditionskäse in Frankreich«, sagte er, »von Roquefort, von Reblochon, von Bleu d'Auvergne - das alles ist wirklich bizarr.« Er musste sich zügeln, es sei alles Unfug, ein Hirngespinst nur der einschlägigen Pariser Cliquen, die seinen Konzern »für ihre Phantasmen missbrauchen, für ihre Angstreden über die Gespenster der Globalisierung«.

Anfangs, als die Entscheidung zum Ausstieg eben gefallen war, hatte Morelon seine Argumente noch besser abgewogen. Er sprach über zu hohe Herstellungskosten, über gestiegene Milchpreise, über den Markt, der bei einem Ladenpreis von über zwei Euro pro Camembert einbreche. Das »hygienische Risiko« spielte eine Rolle, aber noch nicht die entscheidende. Bald aber, weil das Volk seinen Camembert stur verteidigte, weil die Empörung über Lactalis und Isigny wuchs, versteiften sich beide auf eine simplere, besser verkäufliche Botschaft: Camembert aus Rohmilch sei gefährlich. Eine Verseuchung mit Coli-Bakterien, Listerien, Salmonellen, nicht nur nicht auszuschließen, sondern wahrscheinlich.

Man zitierte immer wieder einen Fall von vor vier Jahren, als sechs Kinder von Camembert Durchfall bekamen. Der Schluss daraus könne nur lauten: Die Regeln der Herstellung müssten verändert werden, die Rohmilch verabschiedet. Es seien Kinder in Gefahr, Schwangere, Alte. Und diese Aussage, mit aller Macht eines Großkonzerns verbreitet, bedrohte wirklich die Existenz der Käsemacher hinten in der Normandie, die sich in einen Krieg gezogen fühlten, der über sie kam wie stürmisches Wetter.

Die Heimat des Camembert heißt Pays d'Auge, das ist weiches Hügelland 200 Kilometer westlich von Paris. Der Ärmelkanal ist nah, die Strände der Normandie-Landung. Landeinwärts sieht Frankreich hier wie eine Postkarte aus, bevölkert von Kühen und Kälbern unter Apfelbäumen, durchzogen von alten Hecken entlang kleinen Landstraßen, auf denen schiefe Bauern gehen mit Säcken voller Nüsse auf dem Rücken. Eine Gegend wie ein Schnappschuss des guten alten Frankreich, der die Sehnsüchte einer Nation spiegelt, die sich nie ganz damit abfinden wollte, vom Agrarstaat zum Industrieland geworden zu sein.

Von den verbliebenen neun Camembert-Produzenten haben die meisten ihre Käsereien hier, ein paar liegen noch weiter auf dem Cotentin, der schön gezackten Halbinsel, auf deren Spitze Cherbourg sitzt. Ehrwürdige Namen tragen sie - Gillot oder Graindorge, Réaux oder Leroux -, sie stellen ihre Käse her nach einer Tradition, die der Legende nach schon im Jahr 1791 begann, als ein vor der Revolution geflohener Priester aus der Brie-Region die Bäuerin Marie Harel im Käsemachen unterwies. Vermutlich stimmt an dieser Geschichte nicht viel, aber sie wird gern geglaubt in der Gegend, und sie ist so oft erzählt worden, dass in der Region, wo viele Städte und Dörfer einem Käse ihren Namen schenkten, Livarot, Neufchâtel, Pont l'Evêque, Camembert, im Lauf der Jahrhunderte Denkmäler für Marie Harel errichtet wurden.

In Camembert, einem Dorf aus ein paar Häusern um ein Kirchlein, ist ein »Maison du Camembert« zu besichtigen, es sind alte Schöpflöffel dort ausgestellt, Milchkannen, Butterfässer, kreisrunde, verblichene Käseetiketten. Ein ähnliches, noch größeres Museum findet sich im nahen Vimoutiers, und noch viele Weihestätten mehr wurden dem Camembert gebaut, Denkmäler, es wurden ihm Lieder gesungen und Gedichte auf ihn geschrieben, und zu Frankreichs Nationalkäse stieg er endgültig auf, als die Camembert-Macher während des Ersten Weltkriegs eine Tagesproduktion pro Woche an die Soldaten an der Front verschenkten. Wer Camembert sagt, in Frankreich, sagt viel.

Fünf Autominuten vom Dorf steht François Durand jeden Vormittag in der feuchten Hitze seiner Hofkäserei, er ist der kleinste Produzent von Traditions-Camembert auf der Welt, der einzige in der Gemarkung gleichen Namens, der einzige Bauer auch, der den Camembert nur mit der Milch seiner eigenen Kühe macht. Durand ist ein dünner, bebrillter Mann mit schlechten Zähnen, der bei der Arbeit manchmal singt. Meistens schweigt er.

Seine 60 Kühe haben am Morgen gut 600 Liter gegeben, genug für eine Produktion von 254 Stück Käse. Durand geht um lange Tische aus Inox-Stahl, er schöpft mit einer Kelle die dick gelegte Rohmilch in Käseformen, er füllt sie wie ein Kellner die Teller bei einem Bankett, eine nach der anderen, mit Bedacht. Er muss das im Lauf des Vormittags fünfmal machen mit jeder Form, immer die gleiche Geste, 1000-mal, 1500-mal jeden Tag, es ist eine stumpfe, mühselige Arbeit, aber sie gehört zu den Regeln der Camembert-Charta, »moulé à la louche«, das heißt frei übersetzt: Nur Handarbeit bringt guten Käse hervor.

In dunklen Zimmern neben der Käserei reifen die Stücke duftend vor sich hin, nachdem sie gesalzen wurden, nachdem sie sich ihr Kleid aus guten Schimmelpilzen angezogen haben, jedes Stück bald eine Handvoll Genuss, 250 Gramm schwer, 45 Prozent Fettgehalt in Trockenmasse oder ein bisschen mehr. Käse wie kleine Räder aus Neuschnee nach drei Wochen, jedes ein Original, jedes anders, innen zartgelb wie Elfenbein, großzügig cremig, und alle entfalten im Mund ihre Macht. Die Süße der Kuhmilch ist noch zu schmecken, nussige Noten, mineralische Brisen gehen über die Zunge hin und eine hauchfeine Würze wie von Wiesenkräutern, von Meeresluft.

Es ist eine Sensation, die kein industrieller Camembert liefern kann, kein Käse aus pasteurisierter, thermisierter, mikrofiltrierter Milch. Gegen Durands Einzelstücke wirken billige Supermarktprodukte wie Türstopper. Nur Camembert aus Rohmilch speichert die Beschaffenheit, den Charakter der Landschaft, in der die Kühe grasen, das »terroir«, wie die Franzosen sagen, und man kann das auch mit Heimat übersetzen. François Durand, der seit 20 Jahren mit Rohmilch umgeht, weiß, wie viele Varianten sie hat. Wie anders der Käse schmeckt, wenn Sommer ist oder Frühling. Wie anders der Camembert ausfällt, wenn es lange geregnet hat oder das Wetter trocken war.

»Normannischen Camembert aus behandelter Milch«, sagt Durand, »kann es nicht geben, das ist ein Widerspruch in sich.« Er steht in seinem Hofladen, in weißer Gummischürze, in Gummistiefeln, die Brillengläser milchig verschmiert. In der Mittagszeit kommen Bauarbeiter aus der Gegend herein, um sich ein, zwei Camemberts für die Pause zu holen, aber Durand muss sie enttäuschen. Seine Ware ist ausverkauft, seine Lager sind leer. Jeden Tag geht das jetzt so. Seit die Großen ihre Produktion stoppten, übersteigt die Nachfrage das Angebot bei weitem. Hat er am Ende profitiert von diesem Krieg? »Geschadet hat's mir jedenfalls nicht«, sagt Durand, »geschadet haben sich andere.«

Nach der Entscheidung, aus dem Geschäft mit dem Rohmilch-Camembert auszusteigen, brachen die Verkäufe von Lepetit, dem Vorzeigebetrieb von Lactalis, derart ein, dass die einst so stolze Käsefabrik in Saint Maclou im September 2008 schließen musste. Frankreichs Zeitungen veröffentlichten große Nachrufe auf die im Jahr 1884 von Auguste und Léontine Lepetit gegründete Firma, deren Produkte im Lauf des 20. Jahrhunderts 60 Gold- und Silbermedaillen beim jährlichen Wettbewerb der französischen Landwirtschaft gewannen.

Lactalis-Sprecher Luc Morelon hätte damals ahnen können, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen ist, aber er formulierte weiterhin seine saftigen Pressemitteilungen, er glaubte immer weiter an den Sieg. »Die Gewalttätigkeit der gegen uns geführten Angriffe«, schrieb er, »hat bei den Konsumenten Zweifel geschürt und die Marke (Lepetit) ruiniert.« Dass der Abschied aus der Rohmilch in die Pleite geführt haben könnte, dass die Franzosen, die Kunden, das Volk dem Konzern nicht folgen wollten und seinen Parolen nicht glaubten, klang nicht einmal an. Und dass ein Lepetit-Erbe sagte, Lactalis habe die Tradition verraten und müsse nun den Preis dafür bezahlen, tat Morelon als »üble Polemik« ab.

Aber Lactalis verlor diesen Krieg, alle Schlachten, Luc Morelon verlor den Kampf um Herz und Hirn der Kundschaft, von allen Fronten kamen in immer schnellerer Folge immer schlechtere Nachrichten. Die zuständigen Ämter bekräftigten die gültige Camembert-Charta, die Medien bejubelten den Sieg der Tradition, sie schrieben Geschichten à la »Asterix im Kampf gegen Rom«, David gegen Goliath, Lokalheld gegen Global Player, und bald erschienen auch nüchterne wissenschaftliche Studien, die dem Rohmilch-Camembert in jeder, auch hygienischer, Hinsicht Unbedenklichkeit bescheinigten.

Auf Stadtfesten in der Normandie verspeisten Bürgermeister und Honoratioren demonstrativ und öffentlich den echten normannischen Käse, Vereine zur Verteidigung der Rohmilchtradition gründeten sich und sammelten binnen kurzem 20 000 Unterschriften. Chefköche unterzeichneten Käsepetitionen, Gourmet-Magazine druckten Sonderseiten, und die kleinen Camembert-Produzenten legten ihr Geld zusammen für einen Rechtsanwalt in Caen, der in hundert Arbeitsstunden eine neue Satzung ihres Verbands ausarbeitete, die Lactalis und Isigny um ihre bisherige Stimmenmehrheit im Verbund der Käsemacher brachte.

Luc Morelon lernte die Generalsweisheit zu verstehen, dass nichts verteidigen kann, wer überall verteidigen will. Das eine Mal, als er im Tour Montparnasse empfing, als der Winter bereits wieder vor der Tür stand und er noch glaubte an den Sieg, versteckte er seine Wunden schon hinter galligem Humor, wetterte gegen die gutbetuchten Pariser »Intellos«, gegen die »einschlägigen« Journalisten, die keine Ahnung vom normalen Leben hätten. »Unser größter Fehler war«, sagte Morelon, »das Fernsehen hier reinzulassen.« Der Sender France 3 besuchte Lactalis. Und kurz darauf war im Fernsehen eine böse Dokumentation über den Käsekrieg zu sehen. »Sie wissen schon«, sagte Morelon, »das altfranzösische Chanson von den Kleinen gegen die Großen.« Mit dem Rücken zur Wand entschied sich Lactalis, entschied sich Luc Morelon dafür, vom konventionellen Krieg auf Guerillataktik umzuschalten. Der Konzern begann, die Produkte der kleinen Konkurrenten in den hauseigenen Labors auf böse Bakterien zu untersuchen. Zuletzt am 11. Oktober meldeten die Lactalis-Laboranten Vollzug. Morelon ließ, wie schon zuvor in anderen Fällen, per Pressemitteilung wissen, dass Lactalis »die Behörden über Bakterienfunde in Produkten eines Konkurrenzunternehmens informiert« habe.

Es ging um eine Partie von 5500 Stück »Saint Loup«, um irgendwelche Verunreinigungen, ein Gegengutachten bestätigte die Befunde nicht, aber der Imageschaden war da, eine neue Wunde geschlagen. Morelon sprach von »Selbstverteidigung«, von »Notwehr«. Aber er verlor nur eine weitere Schlacht. In der Normandie, in Paris, in Frankreich attackierten sie ihn jetzt als Denunzianten, und es war moralische Entrüstung zu spüren über diese Art des Sittenverfalls und schlechten Verlierertums.

»Es ist ein ungeheuerlicher Vorgang«, sagt Bertrand Gillot, Chef der Käserei Réaux, gegründet 1931, gelegen in Lessay am Meer. Gillot ist ein rüstiger Endsechziger, Spross einer berühmten normannischen Käsedynastie, er trägt einen blassblauen Pullover mit V-Ausschnitt, in dem ein Schlips steckt, gemustert mit Foxterriern. Er sagt: »Die Zeiten sind nicht mehr, wie sie waren. Früher regierten bei Lactalis noch große Herren, ehrliche Kaufleute, jetzt sind Finanzmakler am Ruder, Jongleure, es ist nicht mehr schön.«

Der Käsekrieg hat seiner Firma Réaux 30, 35 Prozent Zuwachs beschert, es werden hier jetzt 20 000 Käse pro Tag gemacht, ein Anbau an die bestehende Fabrik wird gerade fertig. »Glauben Sie mir trotzdem, wenn ich sage, dass ich diesen schlimmen Kampf lieber nicht geführt hätte«, sagt Gillot, »der Frieden ist dahin, wir waren eine Familie, jetzt sind wir Feinde, ich hätte das gern vermieden.«

Gillot hat schon viele Abwehrschlachten um den Camembert erlebt, und alle wurden stets gewonnen. Im Jahr 1985 lehnte der damals noch westdeutsche Bundesrat im letzten Augenblick eine Gesetzesvorlage ab, die den Import jedweden Käses aus Rohmilch nach Deutschland verboten hätte. 1989 wurden in Großbritannien und Japan, nachdem Listeria-Bakterien im Camembert gefunden worden waren, Einfuhrverbote diskutiert, und Frankreichs Käser durchlitten Anfang der neunziger Jahre Zeiten panischer Angst, weil die Nordländer der EU die Pasteurisation zur europäischen Regel machen wollten. Immer siegte die Rohmilch, und mit ihr der Camembert de Normandie, das handgefertigte Meisterstück, er hatte schon mächtigere Feinde als Lactalis und Isigny.

Bertrand Gillot führt durch die Produktion bei Réaux, an seiner Seite geht Marc Brunet, der Produktionsleiter, ein schnauzbärtiger Mann mit gemütlichem Gesicht, seine Visitenkarten sind in Plastik verschweißt, weil er ständig im Feuchten und Heißen steht. In der Käserei, groß wie zwei Turnhallen, füllen Arbeiter die Formen, sie schöpfen die Rohmilch aus bauchigen Kellen, es geht zu wie beim Hofproduzenten Durand, nur zehnmal nebeneinander, eigentlich ist auch dies eine Fabrik, eine Art Industrie, nur ein bisschen charmanter.

Hinter Glas liegt in verwinkelten Fluren ein Milch-Labor, ein Zimmer wie in einem Krankenhaus, mit Instrumenten bestückt, mit Stahlschränken, technischen Apparaturen. »Rohmilch ist eine Wissenschaft geworden«, sagt Direktor Brunet, »die dauernden Analysen machen zehn Prozent unserer Kosten aus. Und jetzt stellen Sie sich bitte vor, wie viel ein Konzern wie Lactalis dafür ausgeben muss und wie viel er ohne Rohmilch sparen kann.«

Lactalis muss im Jahresverlauf 2008 sparen, muss Stellen streichen, muss ganze Fabriken schließen im Produktionszweig Camembert de Normandie, aber der Imageschaden bedroht auch die Marktanteile anderer Marken, anderer Sorten. Im Winter, fast zwei Jahre nach Kriegsausbruch, beginnt die Erkenntnis zu reifen, dass die eigene Kampfkraft nicht reichen könnte, dass der Krieg verlorengeht, dass die kleinen Rebellen hinten in der Normandie die Kontrolle behalten. Zwei Jahre nach Kriegsbeginn muss Luc Morelon, muss der Lactalis-Vorstand überlegen, wie ein ehrenvoller Frieden zu schließen wäre.

Der lokale Kleinkrieg wird für den globalen Spieler zum »Reputation Risk«, zu einer Gefahr für den guten Ruf. Nicht, dass es dem Konzern schlechtginge, im Gegenteil. Die Geschäfte der Gruppe gehen glänzend, der Konzern feiert Rekordzahlen, brillante Eckdaten, allein 70 000 Tonnen Brie werden jedes Jahr exportiert, 60 000 Tonnen Schmelzkäse. Aber Lactalis braucht den normannischen Camembert, seine Aura, der Konzern braucht den Rückgriff auf das Echte, Authentische, er verliert sonst Glaubwürdigkeit, Tradition, Seele, es geht nicht um Geld, es geht um Kultur.

»Der moderne Konsument ist sensibler geworden«, so sagte Luc Morelon das eine Mal, als er empfing während des Käsekriegs im 30. Stockwerk des Tour Montparnasse, die Pariser Dächer schimmerten drunten, er glaubte noch an den Sieg. »Der Kunde heute ist kritischer«, sagte er, »er will Produktsicherheit, er will Gesundheit.« Aber es war schon ein Reden wider besseres Wissen, wider die Wirklichkeit in einem Land, dessen Bewohner sich nicht schrecken lassen von ein paar Bakterien, wenn sie Austern schlürfen wollen und rohe Meerschnecken, wenn sie sich rohes Fleisch mit rohen Eiern zu Tatar verrühren, wenn sie in Rohmilchkäse beißen wie in ein Stück Brot. Morelon redete gegen die Niederlage, er weigerte sich noch, sich in das Unvermeidliche zu fügen.

Das Unvermeidliche tritt ein, Mitte Januar, 22 Monate nach Beginn dieses Krieges, der sich eigentlich nur um Käse drehte und doch um so viel mehr. Isigny, die Kooperative am Meer, zwischen den Landungsstränden »Utah« und »Omaha« gelegen, gibt auf. Die Erklärung ist kurz: »Wir kehren zur Rohmilch zurück und zur Camembert-Charta, die auch das historische Erbe unserer Arbeit ist.«

Und Lactalis, Luc Morelon geben bekannt, dass man ebenfalls die Rückkehr zur Großproduktion von Rohmilch-Camembert »erwäge«, der Neustart ist geplant für diesen Frühling. Es ist eine Kapitulation. Es ist ein fulminanter Sieg. Und wie im Märchen gewinnt, ausnahmsweise, das Gute, ein Käse, der einzig wahre Camembert de Normandie.

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