EM-Gastgeber Schweiz Mittendrin, doch nicht dabei

Merci vielmal, Eidgenossen! Die Schweiz richtet heute Abend in Basel ihre letzte EM-Partie aus. Melancholie stellt sich nicht ein. Das perfektionistische, aber reservierte Gastgeberland war in Sachen Fußball-Euphorie und Leidenschaft schlicht überfordert.
Von Christoph Höhtker

Genf - Für die Metaphysiker unter den Schweizer Fußballfans hatte sich das Thema Europameisterschaft bereits nach den ersten vierzig Minuten des Eröffnungsspiels erledigt. Zu deutlich war das Zeichen, dass das Schicksal setzte, als es das Innenband von Stürmerstar Alex Frei reißen und Träume von einem eidgenössischen Sommermärchen platzen ließ.

Der 28-Jährige, der in der Bundesliga für Dortmund spielt, sank mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden; wenig später eskortierten betreten blickende Betreuer den Untröstlichen vom Platz. Im Stadion, auf den Kommentatorenplätzen des hiesigen Fernsehens, im ganzen Land: Entsetzen.

Über Jahre hatte man sich organisatorisch wie mental auf das Großereignis eingestellt, hatte hier und da sogar mild temperierte Vorfreude entwickelt - und nun demissionierte der Rekordtorschütze des Alpenstaates nach nicht einmal einer Halbzeit von seinem Amt als Hoffnungsträger einer ohnehin nicht gerade erfolgsverwöhnten Fußballnation.

Nach diesem Schock überraschte es selbst weniger abergläubische Anhänger kaum noch, dass der Auftakt gegen die Tschechen verloren ging, und zwar durchaus unverdient, durch ein einziges Tor wie aus dem Nichts. Selbstverständlich zog man danach auch in der zweiten, bereits alles entscheidenden Partie gegen die Türken den Kürzeren - in allerletzter Minute, nach wiederum großem Kampf und zahlreichen ausgelassenen Chancen.

Wie bitterer Hohn mag es manchen erschienen sein, dass im letzten Gruppenspiel das Glück plötzlich zurückkehrte und man einen mehr als schmeichelhaften Sieg gegen eine portugiesische Zweitbesetzung feiern konnte. Doch da war bereits alles zu spät, die zart keimende "Hopp Suisse"-Euphorie schon im Ansatz erstickt. Trotzdem spendete man der "Nati" und ihrem scheidenden Trainer Jakob "Köbi" Kuhn am Ende warmen Applaus.

In der Geschichte der Europameisterschaften hat sich kein Ausrichter jemals so früh aus dem Geschehen verabschiedet, selbst die Österreicher vermochten das Rennen noch ein wenig länger offen zu halten, doch der historische Negativrekord löste im Land nur verhaltene Kritik und kaum Zorn aus.

"Die Schweiz ist kein Land der öffentlichen Selbstbezichtigungen und gnadenlosen Abrechnungen", befand die "Weltwoche" fast bedauernd. Man müsse, so das Zürcher Magazin weiter, dem Herrgott danken, an einem solchen Ort leben zu dürfen. Die Hoffnung aber, mit der Schweizer Mentalität im Fußball bestehen zu können, solle man sich besser aus dem Kopf schlagen.

Bestehen mussten die Schweizer fortan nur noch in einer Rolle, in der sie deutlich mehr Erfahrung und Erfolge aufweisen können: als meisterliche Organisatoren.

Perfekt: Zugfahrpläne, Beschilderung, Auslaufzonen

Ungeachtet der sportlichen Misere, im Bereich Organisation befand sich die Schweiz in den vergangenen Wochen eindeutig auf der Siegerstraße.

Perfekt getaktete und genauestens eingehaltene Zugfahrpläne, eine die gesamte Spannbreite der Intelligenzquotienten berücksichtigende Beschilderung, großzügig bemessene Auslaufzonen und anspruchsvolle Beschäftigungstherapien für auswärtige Fans - man präsentierte sich allen Eventualitäten gewachsen.

Mancherorts hatte man sogar zuviel des Guten getan und den Ansturm der Besucher schlichtweg überschätzt. Als Folge glichen einige "Fan-Villages" verlassenen Westernstädten, über denen zu allem Überfluss keine texanische Sonne brannte, sondern sich ein Regenschauer nach dem anderen zusammenbraute.

Angesichts horrender Mieten konnten sich deswegen Betreiber vereinsamter Getränke- und Imbissstände ganz besonders gut in die Gefühlslage des nationalen Goalgetters hineinversetzen. Wie Alex Frei war man mit großen Hoffnungen angetreten, und nun konnte man nicht einmal mitmachen.

Insgesamt jedoch funktionierte die Schweiz während der EM wie ein Nobelchronometer aus einheimischer Produktion. Auf dem Platz war alles schief gelaufen, was schief laufen konnte; drum herum herrschte ein Ausmaß an Perfektion, das von der versammelten Weltpresse - wohl das größte Kompliment - nicht einmal wahrgenommen wurde.

Von Vorrunden-Losern zu Fan-Transvestiten

Pannen, so sie denn vorkamen - man denke an den wassergetränkten Baseler EM-Rasen, der für 200.000 Euro ersetzt werden musste - hatten den Charakter des Anekdotischen, das die minutiöse Exaktheit im Ablauf des Gesamtgeschehens eher noch betonte. Allein, den Schweizer Fan, der sich nach dem Scheitern der "Nati" in ein emotionales Niemandsland verstoßen sah, konnten solche Meriten nicht wirklich befriedigen.

Zwar betonte Bundesrat und Sportminister Samuel Schmid ebenso postwendend wie überflüssig, man habe immer noch die Chance, Europameister der Gastgeber zu werden, doch viele seiner Mitbürger gierten nicht nach bizarren Trostformeln, sondern nach wie vor nach dem echten Titel.

Aus diesem Grund entstand in Windeseile eine neue Massenbewegung: Oranje wurde zum Modegebot der Stunde, mit jedem der überzeugenden, aber auch glücklichen Vorrundenauftritte der Holländer tauchten mehr der grell leuchtenden Kleidungsstücke im Straßenbild auf - auch in Städten, in denen sich keine oder kaum niederländische Fans aufhielten.

Die Schweiz hatte eine neue Lieblingsmannschaft gefunden, Nati-Anhänger verwandelten sich reihenweise in "Fan-Transvestiten" (Weltwoche).

"Jetzt sind wir alle Holländer"

Die Elf der Niederlande schien die ideale Projektionsfläche für eidgenössische Sehnsüchte zu sein. Sie spielte schnell, modern und offensiv. Und im Gegensatz zur Schweizer Elf gewann sie ihre Spiele! Zudem mag sich manch Schweizer ganz instinktiv zu diesem flachen Stück Land im Norden hingezogen gefühlt haben, das seit Jahrzehnten den traditionellen Fußballgroßmächten durch phantasievolles Spiel trotzt, dessen Sprache von ähnlichen Gutturallauten dominiert wird und das sich - sicher nicht ganz unwichtig - ähnlich wie die Schweiz durch ein recht ambivalentes Verhältnis zum großen Nachbarn Deutschland auszeichnet.

Für einige Tage, genauer gesagt bis zum Viertelfinale, erwachte unter den Einheimischen noch einmal so etwas wie echte Begeisterung. Man hatte die Niederländer adoptiert; mit ihnen zusammen wollte man Europameister werden. Das Boulevardblatt "Blick" titelte gar aufgeregt: "Jetzt sind wir alle Holländer."

Dann allerdings kamen die Russen und spielten gegen die Holländer wie Holländer, die man an eine Starkstromleitung angeschlossen hatte. Am nächsten Tag konnten das "Team Oranje" die Koffer packen und die zahlreichen holländischen Schlachtenbummler, deren Präsenz das Turnier in der Schweiz überhaupt erst zu einem Erfolg gemacht hatte, die Zelte abbauen.

Die Schweizer hingegen mussten bleiben, obwohl das Angebot an Teams, mit denen man sich behelfsmäßig anfreunden könnte, deutlich an Attraktivität verlor.

Schon jetzt haftet Fanzonen etwas Überflüssiges an

Es mehren sich die Anzeichen, dass nun kreative Spanier oder pfeilschnelle Russen als Sympathieträger zweckentfremdet werden. Sogar die limitierten, jedoch unentwegt kämpfenden Türken könnten eventuell auf eidgenössische Unterstützung zählen - immerhin stehen sie im Halbfinale gegen Deutschland.

Doch eigentlich ist das Turnier für die Schweizer - nach Alexander Freis Innenbanddesaster, nach Köbi Kuhns tränenreichem Farewell - mit dem Ausscheiden der Holländer bereits zum dritten Mal beendet worden.

Schon jetzt haftet den Fanzonen in Städten, in denen kein Spiel mehr stattfindet, etwas Anachronistisches, ja Überflüssiges an. Noch bevor beim Finale in Wien der Titelträger ermittelt sein wird, wird die Schweiz zur Normalität zurückkehrt sein und sich das Turnier langsam in Stoff für Jahresrückblicke verwandeln.

In diesen dürfte vor allem von zwei wenig überraschenden Erkenntnissen die Rede sein: Als Ausrichter demonstrierte die Schweiz Weltklasse, im Hinblick auf die sportliche Konkurrenz galt hingegen das Motto, das seit jeher das Verhältnis der Eidgenossen zur Europäischen Union kennzeichnet: Mittendrin und doch nicht dabei.

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