Erpressung Der "Freund der Eisenbahn" vor Gericht
Berlin - Der "Freund der Eisenbahn" blieb stumm. Zittrig und zusammengesunken, mit starrem Blick und scheinbar verängstigt saß der mutmaßliche Bahnerpresser am Montag vor dem Berliner Landgericht. In der Haft hatte er einen Gehirninfarkt erlitten. Zum Prozeßauftakt drehte sich alles zunächst um die Frage, ob der Mann derzeit überhaupt verhandlungsfähig ist. Außerdem ließen die Aussagen seines Anwalts auch Spekulationen über mögliche Komplizen und über angeblich uneigennützige Tatmotive blühen.
In den Wochen vor Weihnachten vergangenen Jahres wurde die Bahn terrorisiert, Tausende Fahrgäste gerieten in Angst und Schrecken. Ein Güterzug aus Schweden entgleiste zwischen Greifswald und Anklam in Mecklenburg-Vorpommern, der Schaden ging in die Millionen. Rund 300 Fahrgäste eines ICE von Hannover nach Berlin schwebten in höchster Lebensgefahr, als ihr Zug mit Tempo 250 über die gelockerten Gleise raste und die Räder bereits den Kontakt zu den Schienen verloren.
Mit Bundeswehr-Tornados und Hubschraubern wurde daraufhin das deutsche Schienennetz kontrolliert. Nach Kräften bemühten sich Polizei und Militär, die Fahrgäste vor den unbekannten Tätern zu schützen, die sich als "Freunde der Eisenbahn" ausgaben und zehn Millionen Mark verlangten. Am 22. Dezember hatte der Spuk der dann ein Ende. Der "Freund" wurde bei einer fingierten Geldübergabe auf der Autobahnraststätte Irschenberg an der A 8 München-Salzburg gefaßt, als er die zehn Millionen Mark in Empfang nehmen wollte.
Die Staatsanwaltschaft spricht von einem Einzeltäter. Als Motiv nennt sie Habgier. Verteidiger Achim Groepper erklärte dagegen vor Journalisten, sein Mandant habe der Polizei fünf Komplizen genannt. Allerdings würde die Polizei diese Personen als unbeteiligt einstufen. Groepper sprach von womöglich falschen Alibis. Das Motiv seines Mandanten sei nicht nur egoistisch, sondern ein "Akt der Solidarität" gewesen: Er habe ausgesagt, ehemaligen Bahnmitarbeitern helfen zu wollen, die in finanzielle Not geraten seien. Ein Erpresser nach dem Vorbild Robin Hoods?
Bisher ist von dem Angeklagten nicht viel bekannt: Geboren wurde er in Lüneburg, siedelte noch als Kind mit seinen Eltern in die DDR über. In den 80er Jahren war er für drei Monate bei der Reichsbahn beschäftigt. Nach der Wende versuchte er sich als Unternehmer, war im Entsorgungsbereich tätig, hatte eine Baufirma in Berlin und lebte zuletzt mit Frau und Baby in einer kleinen Ortschaft bei Chemnitz.
Im Gerichtssaal erschien der Angeklagte mit hellem Jackett und weißem Hemd. Ein schiefer Mundwinkel deutete auf eine Lähmung der rechten Gesichtshälfte. "Gesundheitlich geht es ihm sehr schlecht", sagte Anwalt Groepper. Die 29. Strafkammer wird es nicht leicht haben, die Hintergründe des Kriminalfalles aufzuklären, der wie der Fall des Kaufhaus-Erpressers "Dagobert" die Öffentlichkeit in Atem hielt. Zur Gefühlslage seines Mandanten faßt Anwalt Groepper zusammen: "Er bereut es wohl sehr."
Rochus Görgen und Cornelia Herold