Erschossener Brasilianer Jims letzte Stunden

Für Jean Charles de Menezes war es der Beginn eines ganz normalen Arbeitstags. Als der junge Brasilianer seine Wohnung verließ, ahnte er nicht, dass er von britischen Anti-Terror-Fahndern beschattet wurde - und dass er nur noch kurze Zeit zu leben hatte. Protokoll eines tödlichen Irrtums.

London - Für Jean Charles de Menezes ist es eine kurze Nacht gewesen. Der 27-jährige Brasilianer, von seinen Freunden oft Jim oder Jean genannt, hatte einen Freund vertreten, der als Nachtportier in einem Hotel in Charing Cross arbeitete. Ein Freundschaftsdienst, denn eigentlich verdiente sich der vor wenigen Monaten mit einem Studenten-Visum eingewanderte Menezes als ungelernter Elektriker seinen Lebensunterhalt. Sein Einkommen war gut, er träumte davon, mit viel Geld in die Heimat zurückzukehren und seinen als Bauern arbeitenden Eltern ein besseres Leben zu ermöglichen.

Aus den Berichten britischer Tageszeitungen lassen sich die letzten Stunden im Leben von Menezes rekonstruieren. Wie der "Guardian" berichtet, war Menezes erst um ein Uhr nachts in die Scotia Road, eine ruhige Sackgasse im Londoner Stadtteil Lambeth, zurückgekehrt. In einem Mehrparteien-Mietshaus teilte er sich dort ein Apartment mit zwei Verwandten.

Ein Bericht der britischen Zeitung "The Independent" rekonstruiert den folgenden Morgen: Am Freitag, den 22. Juli, klingelte das Telefon in der Wohnung des Brasilianers. Gesio de Avila, ein alter Bekannter und Bauunternehmer, fragte an, ob Menezes ihm nicht dabei helfen könnte, einen Brandmelder in einem Gebäude im Stadtteil Kilburn im Nordwesten Londons zu reparieren. Sein Freund sagte zu und zog sich an.

Eine Jacke wurde dem Brasilianer zum Verhängnis

Um kurz nach zehn verließ er die Wohnanlage in der Scotia Road. Ohne dass er es ahnte, begann eine Kette von verhängnisvollen Missverständnissen.

Der Hauseingang, den Menezes an diesem Morgen verließ, wurde von Zivilfahndern überwacht. "The Independent" zufolge hatten die Polizeibeamten herausgefunden, dass in demselben Mietshaus einer der mutmaßlichen Bombenleger lebte, die tags zuvor mehrere Sprengsätze in Londoner U-Bahnen und Bussen deponiert hatten. Die Sprengsätze waren jedoch nicht explodiert, und die Ermittler hatten die Spuren der Terror-Zelle bis in die Scotia Road zurückverfolgen können.

Den Beobachtern fiel der Mann mit dunklem Haar und südländischem Gesicht auf, der das Gebäude trotz verhältnismäßig warmen Wetters in einer dicken Jacke verließ. Das Kleidungsstück erregte den Verdacht der Polizisten: Könnte es sein, dass es nur dazu dienen sollte, einen Sprengsatz zu verbergen? Doch Menezes trug keine Bombe am Körper, sondern hatte die dicke Jacke vermutlich nur angezogen, weil er in seiner Heimat an wärmere Temperaturen gewöhnt war.

"Die Leute sind gut erzogen, Mama"

Ohne sein Wissen war der Gastarbeiter zum potentiellen Attentäter geworden, zumindest in den Augen der Beamten. Später würde die Mutter des Brasilianers erklären, ihr Sohn sei immer besonders vorsichtig gewesen. Als sie ihn einmal vor den Gefahren einer so großen Stadt wie London gewarnt habe, habe er nur gelacht, berichtet der "Guardian": "Es ist ein sauberer Ort hier, Mama. Die Leute sind gut erzogen. Es gibt keine Gewalt in England. Niemand trägt hier Waffen, selbst die Polizei nicht." Für Menezes, der das harte Leben in der brasilianischen Metropole São Paulo kennen gelernt hatte, schien London völlig harmlos.

Nach einem fünfminütigen Fußmarsch kam der 27-Jährige an die Bushaltestelle Tulse Hill Road. Er stieg in die Linie 2 in Richtung Baker Street. Die Polizisten in Zivil, die ebenfalls einstiegen, bemerkte er nicht. Menezes war in Eile, er war spät dran - sein Freund de Avila würde warten müssen. Über Handy rief er an. "Er rief an, um zu sagen, dass er wegen des Busses zu spät kommen werde", zitiert "The Independent" Avila. "Dann rief er noch mal an, um zu sagen, dass er sich wegen der U-Bahn deutlich verspäten werde."

Die Linie 2 fährt durch die belebte Brixton Road. Doch weil die U-Bahn-Station dort an diesem Tag geschlossen war, musste Menezes seine gewöhnliche Route ändern und stieg erst nach einer Viertelstunde Fahrt an der U-Bahn-Station Stockwell aus. Hier wollte er die Bahn in Richtung Kilburn nehmen. Und hier hatte einen Tag zuvor einer der gescheiterten Sprengstoff-Anschläge stattgefunden.

Ahnte Menezes die Gefahr?

Menezes musste sich beeilen. Zeugen berichten später, der Brasilianer sei über die Absperrungen der Ticketschalter gesprungen und durch die unterirdischen Gänge gelaufen. Anscheinend bemerkte er dabei nicht, dass hinter ihm auch die Zivilfahnder zu laufen begonnen hatten. Der Verdächtige näherte sich den U-Bahn-Gleisen, und sie wussten nicht, was er vorhatte.

Was dann passierte, ist derzeit noch Gegenstand der Ermittlungen. Die Polizei hatte nach den tödlichen Schüssen erklärt, die Fahnder hätten auf Menezes geschossen, weil er ihre Anweisungen nicht befolgt habe. Augenzeugen berichteten, dass die Polizisten den Mann durch die U-Bahn-Station im Süden Londons verfolgt und schließlich aus nächster Nähe mit fünf Kopfschüssen getötet hätten.

Laut "The Independent" zweifelt Alex Pereira, ein Cousin des brasilianischen Gastarbeiters, jedoch daran, dass sein Verwandter gewarnt worden sei. Jean sei an das gefährliche Stadtleben von São Paulo gewohnt gewesen: "Er kannte die Regeln dort: Wenn du wegrennst, obwohl die Polizei dir gesagt hat anzuhalten, dann bist du tot." Auch ein Missverständnis sei ausgeschlossen, glaubt Pereira: Sein Vetter habe perfekt Englisch gesprochen. "Es gibt keine Erklärung dafür, dass er eine Warnung ignoriert habe, weil es keine Warnung gab." Die Wunden am Körper von Jean Charles de Menezes bewiesen, dass er von hinten erschossen worden sei. Pereira ist überzeugt: "Er wurde ermordet."

Wie der "Guardian" berichtet, glaubt auch die Mutter des Opfers an ein Verbrechen. "Ich flehe darum, dass die Polizei bestraft wird. Es ist nicht fair, einen unschuldigen Arbeiter zu töten." Der Brasilianer Fausto Soares, ein in London lebender Freund des Opfers, sagte der Zeitung: "Wir haben alle Angst vor den Bomben, aber jetzt fürchten wir uns genauso vor der Polizei."

Die britische Polizei hatte am Samstag zugegeben, dass Menezes nichts mit den Anschlägen zu tun hatte. Außenminister Jack Straw und der Londoner Polizeichef Ian Blair drückten daraufhin ihr "tiefes Bedauern" über den Vorfall aus. An der "Shoot to kill"-Praxis, wonach mögliche Selbstmordattentäter erschossen werden, solle jedoch nichts geändert werden. Nur so könnten Selbstmordattentäter gestoppt werden. Die brasilianische Regierung forderte die rückhaltlose Aufklärung des Unglücks.

Heute wurde ein möglicher Grund bekannt, warum Menezes nicht stehen blieb: Sein britisches Visum war abgelaufen.

Roman Heflik

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten