Fotostrecke

Ausnahmezustand: Fans in Madrid und Amsterdam

Foto: ALBERT GEA/ REUTERS

Erster WM-Titel España im roten Rausch

Die spanische Flagge wird mal als Turban, mal als Mini-Kleid getragen: Madrid versinkt im Freudentaumel. Die Fans feiern den historischen Sieg bei der Weltmeisterschaft - und verehren Krake Paul.

Das Tor fällt und Tausende tanzen. Sie reißen ihre rot-gelben Flaggen hoch, brüllen "Viva España" und tröten mit ihren Vuvuzelas. 1:0, 1:0! Das Stakkato des Kommentators geht im Jubel unter. Die Absperrgitter fallen, und die Madrilenen erobern den Brunnen auf dem Kolumbusplatz. Wen kümmern schon die letzten Minuten des Spiels. Spanien ist Weltmeister - endlich.

Ein Jugendlicher ruft "Goool", sein Freund nimmt es mit dem Handy auf. Dieser Moment bleibt.

Goldkonfetti rieselt wenig später auf die spanische Elf in Johannesburg, in Madrid bespritzen sich Fans mit Bier. Feuerwerke explodieren, Böller knallen. Bis zu 250.000 Menschen sind auf die Fanmeile gekommen. Einige weinen. Und alle singen "campeones" - Weltmeister.

Trainiert wurde die Elf "für die Ewigkeit" (das Fußballblatt "Marca") von Vicente del Bosque. "Vicente, Vicente", rufen die Menschen am Sonntagabend. Nach dem Halbfinale hatte er noch gesagt: "Wir müssen diesen Moment feiern. Wir feiern, aber zurückhaltend." Zurückhaltung? Davon ist jetzt nichts mehr zu spüren. Die Hauptstadt feiert sich in einen Rausch.

Madrilenen, Einwanderer und Erasmus-Studenten triumphieren gemeinsam. Mittendrin sind Tamara Flores und ihre Freunde. Dass sie 117 Minuten bangen mussten, bevor das Tor fiel, ist egal. Fiesta ist ebenso wichtig wie Fußball. Mit rot-gelbem Röckchen, rot-gelben Blumen im Haar und rot-gelber Farbe auf den Wangen ist Tamara über die Fanmeile gehüpft. Irgendwann hat die 17-jährige Schülerin ein Megaphon in die Hand bekommen - durch das sie nicht nur "Viva España!" rief, sondern auch "Hermosoooo!" (Schöner) wenn wieder mal ein Mann mit freiem Oberkörper vorbeistolzierte. Die 1,5-Liter-Flaschen mit "Calimocho", Rotwein mit Coca-Cola, waren schon vor dem Spiel leer.

Über den Paseo de Recoletos ziehen Toreros ("das Kostüm habe ich gestern im China-Laden gekauft") und großflächig bemalte Jungen ("ich habe eine Wette verloren"). Ein Mann hat sein fünf Monate altes Baby im Arm, er wollte unbedingt zur Party nach Madrid. Also ist er um 4 Uhr morgens in Barcelona losgefahren, samt Frau und Kind.

"Pulpo Paul forever"

Die spanische Flagge wird mal als Turban, mal als Minikleid getragen. Wer kein Spanien-Trikot hat, behilft sich mit einem roten Ferrari-Shirt. Und wer noch immer ein Brasilien-Dress trägt, dem ist auch nicht mehr zu helfen.

In einem waren sich alle sicher: Spanien wird gewinnen. Schließlich hat Paul gesprochen. Paul, dieses Oktopus-Orakel aus dem Aquarium in Oberhausen gehört neben Villa, Iniesta und Co. zu den größten Stars hier. Ob als Stoffpuppe, Pappschild oder Maske - dieses Tier gab den Fans ähnlich viel Vertrauen wie die Spieler. Unter das Foto eines Oktopus' auf einem Werbeplakat hat ein Verehrer gekritzelt: "Pulpo Paul forever."

Spanien schwärmt von Krakenarmen und Fußballerbeinen - vergessen sind nun die zweifelnden Kommentare in der Vorrunde, als die Nationalmannschaft gegen die Schweiz verlor. Oder gar die ätzende Kritik des Schriftstellers und Real-Madrid-Fans Javier Marías. Vor zwei Jahren, die Europameisterschaft hatte gerade begonnen, beklagte er sich über die "selección": Der damalige Trainer habe "eine Gruppe von jungen Männern ausgewählt, die bisweilen so mittelmäßig sind, dass ein aufmerksamer Fußballfan wie ich nicht einmal weiß, in welchem Verein mancher von ihnen spielt". Wenn die Nationalmannschaft zu ihren Spielen zusammenkomme, "betrachtet man das in Spanien als lästige Unterbrechung der Primera División oder der Champions League". Spanien gewann die EM. Auch ein Literaturstar kann mal daneben liegen.

Seit dem europäischen Wettbewerb 2008 fiebern die Fans leidenschaftlich mit ihrer "Roja", der Roten, sie vergessen dabei nur zu gerne die Diskussion um Krisen und Regionenkonflikte. Im Moment zählt nur der Titel. Ab morgen gehen sie eine Woche in Rot und Gelb zur Arbeit, versichern drei Frauen noch vor dem Anpfiff. Die Tageszeitung "ABC" hatte ihre Titelseite am Sonntag schon mal in Nationalfarben eingefärbt.

Nach dem Spiel strömen die Fans zur Plaza Cibeles, die durch das bengalische Feuer endgültig zum Roten Platz wird. Trommeln dröhnen, Menschen wackeln mit den Hüften. Tamara und ihre Freunde singen noch einmal "campeones", bevor sie in der Menge verschwinden. Wie eine Welle schwappen die glücklichen Massen über die großen Boulevards von einem Platz zum nächsten.

Auf der Puerta del Sol haben die Fans das neun Meter hohe Reiterstandbild erklommen und auf dem Bronze-Pferd neben der Figur von Carlos III. Platz genommen. Von dort sehen sie auch das riesige Werbeplakat eines Sportartikelherstellers, das eine Hauswand ziert. Darauf ist unter anderem Andrés Iniesta, der Torschütze des Finales, zu sehen. "Dies ist unser Jahr", steht auf dem Plakat. "Es wird unsere Ära sein."

Mehr lesen über

Verwandte Artikel

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren