Ertrunkene Flüchtlinge in Griechenland "Niemand soll so leiden müssen"

Im März 2018 sank ein Boot mit 22 Passagieren auf dem Weg nach Griechenland, nur drei Menschen überlebten. Eine Frau, deren Kinder ertranken, will Gerechtigkeit, doch die Behörden lehnen eine Anklage ab.
Flüchtlingsboot zwischen der Türkei und Agathonisi

Flüchtlingsboot zwischen der Türkei und Agathonisi

Foto: Lefteris Pitarakis/ AP

Jetzt ist sie nicht mehr allein: Fahima sitzt im Wohnzimmer ihres Bruders in einem Einfamilienhaus in Paderborn, eingerahmt von ihren Geschwistern und deren Kindern. Doch es fehlen Fahimas vier Kinder, es fehlen außerdem zwei Neffen und eine Nichte sowie ein Schwager. Sie ertranken vor einem Jahr in der Ägäis, kurz bevor sie die gefährlichste Etappe ihrer Flucht aus Afghanistan beenden konnten.

Von der Türkei nach Griechenland wollten sie, aber ihr Boot kenterte am 16. März in Sichtweite der kleinen Insel Agathonisi. Nur drei der 19 Menschen an Bord überlebten. Bis heute ist nicht geklärt, warum die griechische Küstenwache den Schiffbrüchigen nicht zu Hilfe kam, obwohl sie alarmiert wurde und die genaue Unglücksstelle kannte. Stundenlang trieben die Flüchtlinge im Wasser, Fahima musste zusehen, wie ihre Kinder ertranken, eines nach dem anderen.

Die interne Untersuchung der Küstenwache ist jetzt, ein Jahr nach dem Unglück, abgeschlossen. Das Ergebnis aber wird nicht veröffentlicht.

Fahima (2. von links); ihre Schwester Zarghona und deren Kinder Darab und Mariam

Fahima (2. von links); ihre Schwester Zarghona und deren Kinder Darab und Mariam

Foto: Nicolai Kwasniewski/ SPIEGEL ONLINE

Fahima, tieftraurig und traumatisiert, und ihre Brüder und Schwestern, Neffen und Nichten, wollen sich nicht damit abfinden, keine Ruhe geben. Sie wollen, dass die Verantwortlichen der Küstenwache zur Verantwortung gezogen werden, und sie wünschen sich, dass so etwas nie wieder passiert. "Jeder Mensch, der über das Meer nach Europa kommt, egal woher, hat eine Familie. Niemand soll so leiden müssen wie wir", sagt Fahima.

Seit Jahren sterben Flüchtlinge im Mittelmeer vor den griechischen Inseln. Und ebenso lang gibt es Vorwürfe, dass die Küstenwache nicht immer hilft. Auf dem Meer aber gibt es selten Zeugen und wenn doch jemand überlebt, dann geht es ihm nach der Rettung eher darum, den Asylprozess zu verstehen - und nicht darum, für Aufklärung und Gerechtigkeit zu kämpfen.

An dieser Stelle enden solche Geschichten meist. In diesem Fall aber gibt es Beweise - und Verwandte in Deutschland, die unmittelbar nach dem Schiffbruch nach Samos flogen, unangenehme Fragen stellten, Asylorganisationen und den SPIEGEL informierten. Im April 2018 erstattete die Familie Strafanzeige gegen die Verantwortlichen der Küstenwache.

Entscheidung erst vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?

Mehr als ein Jahr ermittelte die zuständige Staatsanwältin, doch sie sieht offenbar keinen Grund dafür, ein Gerichtsverfahren zu eröffnen. Obwohl Darab, Neffe der überlebenden Fahima die Küstenwache über den offiziellen Notruf informierte, obwohl er die genauen Koordinaten des Schiffbruchs übermittelte und obwohl die Küstenwache keine Rettungsaktion startete. (Lesen Sie hier die ganze Geschichte.)

Für Fahima ist das bitter: "Wir haben schon lange das Gefühl, dass die Behörden in Griechenland das Versagen der Küstenwache nicht aufklären wollen." Niemand habe die vielen Fragen der Familie beantwortet, sagt sie: Warum war den Menschen im Boot niemand zu Hilfe gekommen? Warum war die Küstenwache erst einen Tag nach dem Untergang ausgerückt, obwohl sie direkt informiert worden war?

Fahima und ihre Angehörigen hatten früh die griechische Hilfsorganisation Refugee Support Aegean (RSA) an ihrer Seite. Deren Anwältin Natassa Strachini versucht schon lange, Verfehlungen der griechischen Küstenwache aufzudecken. Sie zeigt sich von der jüngsten Entscheidung enttäuscht: "Der Beschluss der Staatsanwältin ignoriert den Anspruch der Überlebenden und der Angehörigen der Opfer auf Rechtsschutz."

Strachini war es auch, die das Verfahren gegen die Verantwortlichen vorangetrieben hat. Die Einstellung will sie nicht akzeptieren: "Wir werden im Auftrag der Opfer Berufung einlegen, um eine umfassende gerichtliche Untersuchung zu erreichen." Notfalls wird sie mit dem Fall bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen.

Aber was ist schon Gerechtigkeit, wenn man seine Kinder verloren hat?

RSA sorgte dafür, dass Fahima das berüchtigte Flüchtlingslager auf Samos verlassen und in Athen eine kleine Wohnung beziehen konnte. Auch ihre Schwester Zarghona mit ihren Kindern Darab und Mariam stieß hinzu. Sie hatte bei dem Unglück drei Kinder und ihren Ehemann verloren. Inzwischen sind die Verwandten alle nach Deutschland gekommen.

Während der Zeit in Athen bekam Fahima psychologische Betreuung, trotzdem war es eine schlimme Zeit: "Ich war immer noch in dem Land, in dem meine Kinder gestorben sind. Einem Land, in dem ich das Gefühl hatte, nicht willkommen zu sein." Mehr als einmal habe sie darüber nachgedacht, sich selbst ins Wasser zu stürzen.

In Athen begannen Darab und Mariam damit, Deutsch auf YouTube zu lernen

In Athen begannen Darab und Mariam damit, Deutsch auf YouTube zu lernen

Foto: Giorgos Christides

Geholfen hat vielleicht auch die Anwesenheit ihrer Schwester und deren Kinder, dem 25-jährigen Darab und der 18-jährigen Mariam, die schon in Athen damit begannen, per YouTube Deutsch zu lernen - voller Hoffnung auf eine Zukunft in Deutschland.

Doch der Weg von Afghanistan bis in das Wohnzimmer in Paderborn war lang. Eigentlich sollte es logisch sein, dass die vier nach Deutschland ziehen: Dort haben sie Menschen, die sich um sie kümmern, die sie aufnehmen können, Deutsch sprechen und gut integriert sind.

Aber nicht alles, was logisch ist, sieht das Recht vor. Das sogenannte Dublin-Verfahren legt fest, dass jeder Geflüchtete dort Asyl beantragen muss, wo er das erste Mal europäischen Boden betritt - in diesem Fall also in Griechenland. Ein Antrag auf Zusammenführung mit der Familie in einem anderen EU-Land ist möglich, aber höchst kompliziert.

Taliban verurteilten die Familie zum Tode

Die Familie hat Erfahrung im Umgang mit deutschen Regelungen und Behörden. Die ersten, die sich in den Achtziger- und Neunzigerjahren in Paderborn niedergelassen haben, sind schon lange eingebürgert, so wie Fahimas Bruder, der in seiner Zeit als Bundeswehrsoldat sogar in Afghanistan im Einsatz war.

Hintere Reihe von links: Fahimas Neffen Michael, Darab, Sohrab und ihr Bruder Bashir. Vorne von links: Fahimas Schwestern Anisa, Zarghona, Fahima selbst und ihre Nichte Mariam

Hintere Reihe von links: Fahimas Neffen Michael, Darab, Sohrab und ihr Bruder Bashir. Vorne von links: Fahimas Schwestern Anisa, Zarghona, Fahima selbst und ihre Nichte Mariam

Foto: Nicolai Kwasniewski/ SPIEGEL ONLINE

Doch in der Heimat wuchsen die Probleme: Fahimas Neffe hatte für die britischen Nato-Truppen als Dolmetscher gearbeitet, seine auf der Überfahrt nach Griechenland ertrunkene Schwester als Anwältin für Menschenrechtsorganisationen. Den Taliban galt die ganze Familie deshalb als Verräter, sie verurteilten sie zum Tode.

Fahimas Neffe floh als Erster aus der Familie schon vor fast sieben Jahren nach Europa. 2016 entschlossen sich auch die übrigen, ihre Heimat zu verlassen, die Lage in Afghanistan war zu unsicher geworden. Der Landweg durch Iran erschien ihnen zu gefährlich, ein Visum für Deutschland war nicht zu bekommen, also flogen sie in die Türkei. Eineinhalb Jahre lang versuchten sie dort nach eigenen Angaben, eine dauerhafte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zu bekommen. Erst als ihnen beides verwehrt worden sei, hätten sie die Überfahrt nach Griechenland gewagt, sagen sie. Fahima bereut es bis heute, in das Boot gestiegen zu sein. Ihre Kinder sind tot.

Und jetzt? Das Asylverfahren in Deutschland zieht sich, die Pässe sind irgendwo zwischen Athen und Bonn verloren gegangen. Immerhin konnte die Familie einen Beleg für die Morddrohungen der Taliban vorlegen. Eine psychologische Betreuung gibt es aber für Fahima immer noch nicht - als Asylbewerberin hat sie darauf keinen Anspruch. Ein echtes Zuhause hat sie noch nicht, ihr fehlt nach dem Tod ihrer Kinder ein Platz in der Familie und der Welt.

Fahima verbringt ihre Zeit abwechselnd bei ihrem Bruder und ihrer Schwester. Manchmal geht es ihr besser, wenigstens tagsüber. Nachts aber kommen die Albträume. Dann ist sie wieder im Boot, im Wasser, sie kämpft um ihr Leben und muss zusehen, wie ihre Kinder ertrinken.

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