Europagericht rügt Sicherungsverwahrung Sextäter erhält 27.000 Euro Schmerzensgeld

Die deutsche Justiz hat gegen die Menschenrechte verstoßen - weil die Sicherungsverwahrung eines Sexualstraftäters nachträglich verlängert wurde. Erneut kam der Europäische Gerichtshof zu diesem Schluss. Nun muss Deutschland dem verurteilten Kriminellen 27.000 Euro Schmerzensgeld zahlen.
Häftling in Einzelzelle: EU-Ärger wegen verlängerter Sicherungsverwahrung

Häftling in Einzelzelle: EU-Ärger wegen verlängerter Sicherungsverwahrung

Foto: Patrick Seeger/ picture alliance / dpa

Straßburg - Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die deutsche Praxis der nachträglich verlängerten Sicherungsverwahrung abermals verurteilt. Die Straßburger Richter gaben am Donnerstag einem mehrfach verurteilten Sexualstraftäter Recht, dem Deutschland nun wegen Verstoßes gegen die Europäische Menschenrechtskonvention 27.467 Euro Schmerzensgeld zahlen muss.

Die Sicherungsverwahrung des Klägers war 2002 nachträglich auf unbestimmte Zeit verlängert worden. Dies werteten die europäischen Richter, wie schon in mehreren parallel gelagerten Fällen zuvor, als Verstoß sowohl gegen das Grundrecht auf Freiheit als auch gegen das Verbot rückwirkender Strafen.

Das Urteil wurde von einer Kleinen Kammer des Menschenrechtsgerichtshofs gefällt. Binnen drei Monaten kann die Bundesregierung Rechtsmittel einlegen. Der Gerichtshof kann den Fall an die Große Kammer verweisen - er muss dies aber nicht tun. In einem früheren Fall wurde dies abgelehnt.

Erstmals setzten sich die Richter ausdrücklich mit dem Konflikt auseinander, wonach der Staat nach der Menschenrechtskonvention verpflichtet sei, die Bevölkerung vor höchst gefährlichen Straftätern zu schützen. Die Konvention lasse es aber "nicht zu", so die Straßburger Richter, "dass Staaten Einzelpersonen vor Straftaten einer Person schützen, indem sie Maßnahmen ergreifen, die selbst gegen die Konventionsrechte dieser Person verstoßen".

Der deutsche Bundesgerichtshof hatte vor kurzem verlangt, dass in jedem Einzelfall abgewogen werden müsse, ob ein konventionswidrig verwahrter Straftäter entlassen werden kann oder trotzdem weiter weggesperrt bleiben muss. Dieser Einzelfalllösung widersprachen die Europa-Richter.

Der heute 58 Jahre alte Kläger war wiederholt wegen Vergewaltigung junger Frauen verurteilt worden und verbrachte seit 1976 die meiste Zeit hinter Gittern. Im Mai 1990 verhängte das Landgericht Heilbronn gegen Richard J. erneut eine dreijährige Freiheitsstrafe. Weil zu erwarten war, dass der Täter nach der Freilassung rückfällig werden könnte, ordnete das Gericht zugleich eine Sicherungsverwahrung an, deren Dauer damals auf zehn Jahre beschränkt war.

Keine Strafe ohne Gesetz

Nach Ablauf dieser Frist im Oktober 2002 verlängerte das Landgericht Karlsruhe die Sicherungsverwahrung auf unbestimmte Dauer, weil Sachverständige den Sexualstraftäter nach wie vor für potenziell gefährlich hielten. Dabei wandte das Gericht eine rückwirkende Gesetzesänderung aus dem Jahre 1998 an, mit der die Höchstdauer der Sicherungsverwahrung auch für bereits verurteilte Täter abgeschafft worden war.

Das Straßburger Gericht erkannte zwar an, dass die deutsche Justiz "potentielle Opfer vor Leid" schützen wollte. Vom Rechtsprinzip "keine Strafe ohne Gesetz" sei "auch in Notstandsfällen keine Abweichung zulässig". Die Sicherungsverwahrung sei ein Freiheitsentzug und damit eine Strafe, für die das strafrechtliche Rückwirkungsverbot gelte.

Der Menschenrechtsgerichtshof verurteilte Deutschland seit Ende 2009 bereits mehrmals wegen der Sicherungsverwahrung. Als Konsequenz aus diesen Urteilen trat Anfang des Jahres eine Reform in Kraft, nach der eine Sicherungsverwahrung nun immer bereits bei der Verurteilung angeordnet werden muss. Für "Altfälle" gilt zudem ein neues Therapieunterbringungsgesetz, das einen Aufenthalt in speziellen Einrichtungen vorsieht.

Richard J., bei dem im Jahre 2004 Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert wurde, ist seit 2009 auf freiem Fuß. Damals setzte das Landgericht Karlsruhe seine Unterbringung in Sicherungsverwahrung zur Bewährung aus.

Mitarbeit: Dietmar Hipp

sto/AFP/Reuters
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