Gesunkene Fähre in Südkorea "Wer blieb, saß in der Falle"
Jeju/Seoul - Das erste Notsignal setzte die Besatzung der "Sewol" um 9 Uhr morgens ab. Den größten Teil der langen Fahrt von Incheon im Nordwesten bis zur Insel Jeju im Süden hatte die Fähre da schon geschafft; viele Passagiere saßen noch beim Frühstück und freuten sich auf die Ankunft im Hafen der Ferieninsel.
Wenige Stunden später ragt von der "Sewol" nur noch der blau-weiß lackierte Wulstbug aus den Wellen, umschwärmt von unzähligen Schiffen und Booten im verzweifelten Rettungseinsatz. Fast 300 Menschen werden vermisst, nachdem die mehrstöckige Auto- und Passagierfähre am Mittwochmorgen (Ortszeit) zunächst Schlagseite bekam, dann kenterte und schließlich fast komplett in den Fluten versank. Die Mehrzahl der insgesamt rund 450 Passagiere waren Jugendliche auf einem Schulausflug.
Was das Schiffsunglück verursacht haben könnte, ist auch einen halben Tag nach dem ersten Notsignal noch unklar. Der koreanische Rundfunksender KBS berichtet unter Berufung auf einen Beamten der Küstenwache, das Schiff sei aus noch ungeklärten Gründen möglicherweise außerhalb der normalen Route gefahren. Für möglich halten viele Beobachter zudem die Kollision mit einem Felsen - dazu würden die Berichte vieler Überlebender passen.

"Ich hörte ein laut pochendes Geräusch, bevor das Schiff stoppte", sagte etwa ein geretteter Schüler dem Kabelsender YTN. Ein anderer erzählte der Nachrichtenagentur AP, nach dem Frühstück habe er gespürt, wie die Fähre sich neigte und ein Hindernis rammte. Danach habe es eine Durchsage gegeben, wonach die Passagiere warten und sich nicht vom Fleck bewegen sollten. Weitere Anweisungen - etwa zu einer Evakuierung - habe es nicht gegeben.

Auch andere Aussagen von Überlebenden werfen Fragen zum Verhalten der Crew auf. "Alles war prima. Dann gab es ein lautes Geräusch, Frachtstücke stürzten um", sagte etwa Cha Eun Ok, die an Deck war und fotografierte, als das Unglück seinen Lauf nahm. "Es wurde durchgesagt, dass die Leute an Ort und Stelle bleiben sollten", sagte sie. "Aber wer blieb, saß in der Falle."
"Wenig Hoffnung" für Eingeschlossene
Rettungskräfte befürchten, dass viele der knapp 300 Vermissten noch im Rumpf der gesunkenen "Sewol" eingeschlossen sind. Für sie gebe es "nur wenig Hoffnung", sagte ein Sprecher der Rettungsmannschaften. In höchster Eile hatten Helfer über Stunden versucht, Überlebende aus der gekenterten Fähre zu holen; live war im südkoreanischen Fernsehen zu beobachten, wie Menschen in orangefarbenen Schwimmwesten von Bord des Schiffs ins Wasser sprangen oder per Helikopter in Sicherheit gebracht wurden. Fast hundert Boote und Schiffe umkreisten den Havaristen; aus der Luft beteiligten sich 18 Hubschrauber und Flugzeuge an der Hilfsaktion. Taucher suchten im bereits versunkenen Teil des Schiffs nach Überlebenden.
Auf der Insel Jindo, die der Unglücksstelle am nächsten liegt, versorgen Helfer die Geretteten mit Wolldecken; eine Turnhalle dient dort als Auffanglager für die oft durchnässten und verängstigten Passagiere der "Sewol". Er sei ins Meer gesprungen und zu einem Rettungsboot geschwommen, berichtete einer der überlebenden Schüler dem Fernsehsender YTN. "Die Fähre schwankte und kippte, wir sind alle gestolpert und gegeneinandergestoßen." Nach seinem Sprung von Bord sei das Wasser sehr kalt gewesen. "Ich bin schnell geschwommen", sagte er. "Ich dachte: Ich will leben."
Die Jugendlichen gehören zu einer Ausflugsgruppe der Danwon-Oberschule aus Ansan, einer Vorstadt von Seoul. Unterwegs waren sie zur Insel Jeju, die als eine Art südkoreanisches Hawaii gilt: Ausflüge hierher sind in dem Land populär; auch für Hochzeitsreisen ist Jeju ein beliebtes Ziel. Die 16- und 17-jährigen Schüler aus Ansan wollten vier Tage auf dem Eiland verbringen; auf die vergleichsweise umständliche Anreise per Schiff setzte die Schule offenbar aus Kostengründen.
Eltern vor Eingang der Schule versammelt
Auf die Nachricht des Fährunglücks reagierten Mitschüler und Angehörige in Ansan mit Entsetzen. Einige Klassenkameraden hätten begonnen zu weinen, nachdem sie auf ihren Smartphones vom Schicksal der "Sewol" erfahren hätten, berichtete eine Schülerin der Nachrichtenagentur AP. Lehrer hätten versucht, sie beruhigen. Vor dem Eingang der Schule habe sich unterdessen rund ein Dutzend Eltern versammelt; auch hier hätten viele geweint.
Viele Angehörige drängten in eigens bereitgestellte Busse, die sie auf die Insel Jindo bringen sollten. "Ich muss jetzt dort hin", sagte Park Seong Ho, der Vater eines 17-Jährigen, der seit dem Untergang der Fähre vermisst wird. "Es ist, als würde die Welt auseinanderbrechen. Ich will jetzt meinen Sohn sehen." Jeong Kyung Mi, die Mutter eines anderen 17-Jährigen, bekam gleich nach dem Unglück eine SMS von ihrem Sohn, wonach er in Sicherheit sei. "Ich dachte, mein Herz hört auf zu schlagen", sagte sie über den Moment, in dem sie die Nachricht bekam.
Doch auch der Unmut vieler Angehöriger schien sich zwischenzeitlich in der Danwon-Oberschule bemerkbar zu machen. Wie die Zeitung "Korea Herald" berichtet, versammelten sich rund 250 Eltern zu einer Protestveranstaltung in der Schule. Sie fordern genauere Informationen darüber, wie es ihren Kindern geht, vor allem eine Liste mit den Namen der Geretteten. Hintergrund sind offenbar die vielen sich zum Teil widersprechenden Berichte zum Ablauf der Rettungsaktion: So hatte ein Vertreter der Schule zunächst mitgeteilt, es seien sämtliche 338 Teilnehmer des Ausflugs in Sicherheit. Später stellte sich diese Information als falsch heraus.
Laut Küstenwache konnten bislang erst 174 Passagiere und Besatzungsmitglieder gerettet werden. Bestätigt sind dem "Korea Herald" zufolge sechs Todesopfer - doch diese Zahl könnte in den nächsten Stunden drastisch ansteigen.
Längst ist es wieder dunkel in Südkorea, Scheinwerfer leuchten die Unglücksstelle aus, während Rettungskräfte weiter nach möglichen Überlebenden suchen. Drei schwimmende Kräne sollen die Fähre so schnell wie möglich aufrichten.
Sollten sich die Befürchtungen der Küstenwache bewahrheiten, wäre es das schlimmste Schiffsunglück in Südkorea seit mehr als 20 Jahren.