Arzt im Flüchtlingsheim am Grenzweg "Und dann kommen die Tränen"

Mediziner Thomas Dreher

Mediziner Thomas Dreher

Foto: SPIEGEL ONLINE

Thomas Dreher ist für die medizinische Versorgung von Flüchtlingen in Hamburg-Rahlstedt zuständig. Er fragt sich: Werden wir den traumatisierten Menschen wirklich gerecht?

Flüchtlingsheim am Grenzweg
Foto: Arnold Morascher

Die Erstaufnahme Rahlstedt befindet sich am Rand eines Hamburger Gewerbegebiets. Eines Tages sollen hier 560 Flüchtlinge wohnen. Wie sieht ihr tägliches Leben aus? Wie funktioniert eine Erstaufnahme? Was verändert sich für die Nachbarn? Dieser Blog beschreibt Woche für Woche den Alltag einer großen Unterkunft und lässt Bewohner, Mitarbeiter, Anwohner zu Wort kommen.

Drehers "Praxis", ein weißer Container, hebt sich deutlich ab von den anderen hellgelb gestrichenen Containern in der Erstaufnahme Rahlstedt. Neben der Eingangstür ist ein rotes Kreuz aufgemalt. Und darüber steht: "First Aid Medical Center". Klein darunter ist vermerkt, wer diesen Medizincontainer - und neun weitere in anderen Hamburger Erstaufnahmen - bezahlt hat: die Dorit & Alexander Otto Stiftung.

Der Container ist der Prototyp für die mobile medizinische Versorgung, hier arbeitet Dreher für sechs bis acht Stunden pro Woche. Dann hält der Arzt seine Sprechstunde ab für Menschen, die aus Syrien, dem Irak, Iran, Afghanistan, Eritrea, Vietnam, Ghana, oder der Ukraine nach Deutschland geflüchtet sind.

Dreher hat 20 Jahre in Kolumbien in der Entwicklungshilfe gearbeitet, er spricht verschiedene Fremdsprachen - aber so viele Sprachen beherrscht er dann doch nicht. "Sprache ist auch in der medizinischen Versorgung der entscheidende Schlüssel, um Symptome zu erkennen, die Vorgeschichte einer Erkrankung zu erfahren, die richtige Behandlung einzuleiten und zu erklären", sagte die Hamburger Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks, als die Stadt die Container im Februar 2016 offiziell übernahm.

Ein Arabisch-Dolmetscher wird schnell zugeschaltet

Der Medizincontainer ist deshalb nicht nur mit Wartezimmer, Mini-Empfangsraum und Sprechzimmer ausgestattet, sondern auch mit einem digitalen Übersetzungsservice. Das Gesundheitsamt Hamburg-Altona, das den Container nun betreibt, hat eine Flatrate bei einem Wiener Anbieter für Übersetzungen per Video gebucht. Wartezeit für einen Arabisch-Dolmetscher laut Prospekt: 120 Sekunden. Das afghanische Dari und das persische Dari seien nach spätestens 15 Minuten verfügbar, Suaheli und Bengalisch müssen einen Tag vorher angemeldet werden.

"Ich hatte erst Bedenken, dass das Menschliche fehlt", sagt Dreher, "aber es klappt hervorragend." Der Arzt ist für die basismedizinische Versorgung in der Erstaufnahme Rahlstedt zuständig, im Alltag heißt das: Seine Patienten leiden unter Durchfall, Gastritis, Arthritis. Über Hightech-Geräte verfügt der Medizincontainer nicht, Dreher kann weder ein EKG noch einen Lungenfunktionstest durchführen, aber der Arzt sagt: "80 Prozent der Diagnose erfolgt durch eine gute Anamnese."

Auf gefährliche, ansteckende Krankheiten werden angekommene Flüchtlinge schon in der sogenannten Zentralen Erstaufnahme untersucht, vor allem Hinweise auf einen tuberkuloseverdächtigen Befund der Lunge sollen zeitnah durch eine Röntgenuntersuchung erkannt werden. Und es wird geimpft. In die Erstaufnahmen ziehen dann nur die Flüchtlinge, die diesen Gesundheitscheck bestanden haben und nicht ansteckend sind.

Zur Autorin
Foto: Torsten Kollmer

Marianne Wellershoff ist Autorin beim SPIEGEL und beschäftigt sich mit Themen aus Kultur und Gesellschaft. In diesem Blog berichtet sie aus dem Mikrokosmos einer Erstaufnahme. Sie geht der Frage nach, wie Flüchtlinge in Deutschland leben und wie das Land mit ihnen lebt.

Zehn bis zwölf Patienten sieht Dreher pro Sprechstunde, viele kommen mehrfach. Nach und nach entwickelt sich Vertrauen, und die Patienten geben preis, was sie quält. "Dass jemand nicht belastet ist, habe ich noch nicht erlebt", sagt Dreher. Die Menschen seien in einer Ausnahmesituation, schon allein deshalb, weil sie so weit weg von zu Hause seien. Dazu komme das Erlebte, der Krieg in der Heimat, die Dramen der Flucht. "Der Patient sagt, er leide unter Schlaflosigkeit", erzählt Dreher, "aber man sieht im Verhalten, dass da mehr ist. Und dann kommen die Tränen."

Der Schlepper führte sie in ein Waldgebiet

Da sind zum Beispiel Fazilat Nabi und ihr Mann Mohammed. Die Geschichte, die sie erzählen, ist dramatisch: Sie sind Ende Juli in Deutschland angekommen, nach einer monatelangen Flucht mit Bussen, Autos und zu Fuß. Sie waren irgendwie durchgekommen bis nach Bulgarien, obwohl die Türkei die Grenze eigentlich abgeriegelt hatte. In Bulgarien habe ein Schlepper sie in ein Waldgebiet geführt, um von dort aus nach Serbien zu gelangen, sagt Mohammed auf Englisch, das er sich als Autoteile-Händler in Afghanistan selbst beigebracht hat. Aber die bulgarische Polizei habe sie entdeckt, die Streife habe Hunde dabei gehabt und seine Frau gezwungen, sich auszuziehen - obwohl er ihnen 250 Dollar und sein Telefon gegeben habe, um seiner Frau dies zu ersparen. Geld und Telefon hätten die Polizisten genommen, seine Frau habe sich trotzdem ausziehen müssen.

Fazilat Nabi weint, als sie sich an diesen Horror aus dem vergangenen Frühjahr erinnert. Sie war schwanger im fünften Monat. Noch im Wald habe sie Blutungen bekommen und das Kind verloren. Eine Infektion sei die Folge gewesen, die erst später, nach einer medizinischen Behandlung in Österreich, ausgeheilt sei.

Heute ist Fazilat Nabi wieder schwanger und freut sich darüber sehr. Aber entspannt ist die Situation für sie trotzdem nicht: Weil sie und Mohammed in Bulgarien per Fingerabdruck registriert wurden, droht ihnen nach dem Dublin-Abkommen die sogenannte Rücküberstellung dorthin - ein Schicksal, das in den ersten neun Monaten dieses Jahres allerdings nur 72 Flüchtlinge traf. Bulgarien hat jedoch in fast 2000 Fällen einer solchen Rücküberstellung zugestimmt, es können also noch weitaus mehr Flüchtlinge dorthin zurückgeschickt werden.

Susanne Pruskil vom Gesundheitsamt Altona

Susanne Pruskil vom Gesundheitsamt Altona

Foto: SPIEGEL ONLINE

Drehers Vorgesetzte beim Gesundheitsamt Altona ist die Ärztin Susanne Pruskil, sie ist für die medizinische Versorgung der Flüchtlinge in Hamburg zuständig. Sie nennt eine Faustregel: Ein Drittel der Flüchtlinge bewältige traumatische Erfahrungen aus eigener Kraft, ein Drittel schaffe es mit guter Betreuung - und ein Drittel sei psychisch so angeschlagen, leide zum Beispiel unter Depressionen, sei suizidgefährdet oder zeige gewalttätiges Verhalten, dass professionelle Hilfe gebraucht werde.

Mit menschlicher Anteilnahme, sagt Dreher, könne man dem zweiten Drittel schon sehr helfen. Aber manchmal frage er sich: Werden wir den traumatisierten Menschen wirklich gerecht? In ärmeren Ländern sei Anteilnahme noch eher üblich als in Deutschland, wo viele Menschen gehetzt und überarbeitet seien. Keine Zeit für Mitleid.

Der Medizincontainer in der Erstaufnahme Rahlstedt

Der Medizincontainer in der Erstaufnahme Rahlstedt

Foto: SPIEGEL ONLINE

Es gebe, so Dreher, ganz einfache Mittel, die den seelisch Verletzten helfen könnten. An erster Stelle: das vertraute Essen. "Comfort Food", nennen die Angelsachsen die Gerichte, die helfen, emotionalen Stress abzubauen. Für Menschen aus Eritrea ist der Geschmack von Sauerteigbrot aus dem Getreide Teff der Geschmack der Heimat. Er gibt Geborgenheit.

Doch: Die Bewohner in den Erstaufnahmen dürfen nicht selbst kochen, sie werden vom deutschen Caterer versorgt, mit Frikadellen oder Gulasch zum Beispiel. "Viele der Frauen haben immer für ihre Familie das Essen zubereitet, und hier dürfen sie das nicht", sagt Dreher, "und dieser Verlust kann sie krank machen."

"Ich wünschte", fügt Dreher an, "solche einfachen Dinge wären möglich. Manchen wäre schon geholfen, wenn sie sich nur ihr Süppchen kochen dürften." Es wäre auch gesünder als eine Schmerztablette.

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