
Ashna und Awat Rashid
Foto: SPIEGEL ONLINEErst erreichen Briefe die Bewohner des Flüchtlingsheims in Rahlstedt nicht, weil der Bote sie nicht zustellt. Dann kommt die Post wieder an - mit einer schlechten Nachricht für eine Familie aus dem Irak.

Die Erstaufnahme Rahlstedt befindet sich am Rand eines Hamburger Gewerbegebiets. Eines Tages sollen hier 560 Flüchtlinge wohnen. Wie sieht ihr tägliches Leben aus? Wie funktioniert eine Erstaufnahme? Was verändert sich für die Nachbarn? Dieser Blog beschreibt Woche für Woche den Alltag einer großen Unterkunft und lässt Bewohner, Mitarbeiter, Anwohner zu Wort kommen.
Der Schicksalsbrief kommt im gelben DIN-A4-Umschlag - Behördenpost vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Ist der Asylantrag positiv beschieden? Oder wird wenigstens sogenannter subsidiärer Schutz gewährt, weil eine Rückkehr in die Heimat lebensgefährlich wäre? Oder wird der Antrag abgelehnt und die Ausreise aus Deutschland binnen 30 Tagen angeordnet?
Am 22. August hatten die irakischen Kurden Ashna und Awat Rashid ihre zweite Anhörung beim Bamf, wie das Amt abgekürzt heißt. Am 29. August wurde ihr Bescheid abgeschickt, aber er kam nie an, weder in der Turnhalle in Hamburg-Osdorf, wo sie monatelang mit ihren drei Kindern untergebracht waren, noch in der Erstaufnahme in Hamburg-Rahlstedt, wo sie seit Eröffnung des Containerdorfs leben.
Für die Rashids bedeutete das: warten. Und bangen: Was wird in dem Bescheid stehen, Daumen rauf, Daumen runter? Wird das Bamf ihre tragische Geschichte als Asylgrund anerkennen, den Suizid der - auf Anordnung des Großvaters und Familienoberhaupts - zwangsverheirateten Tochter, die Todesdrohungen gegen den Sohn, wenn die andere Zwillingstochter sich nicht auch einer Zwangsehe fügen würde?
Der Post-Streit
Mitte November hatten die Malteser, die die Erstaufnahme in Rahlstedt leiten, genug vom Warten, und sie baten das Bamf, den Bescheid nochmals abzuschicken. Doch der kam wieder nicht an und auch der zum dritten Mal am 12. Dezember verschickte Behördenbrief nicht. Und dann rief das Bamf bei den Maltesern an: Warum würden die Briefe denn immer wieder zurückgeschickt?
Auf das "Warum" gibt es verschiedene Antworten, je nachdem, wen man fragt. Fest steht: Am 22. November gab es einen Streit zwischen dem Zusteller der Post und dem Wachdienst der EA Rahlstedt. Die Version des Postboten: Er habe die Behördenpost, die von den Maltesern quittiert werden muss, am Infopoint auf dem Gelände des Containerdorfs abgeben wollen, sei auf dem Weg dorthin und zurück vom Wachdienst begleitet worden und habe sich am Ausgang mit "mehreren Sicherheitskräften" konfrontiert gesehen. In der Folgezeit habe er das Gelände dann nicht betreten, wenn der Wachdienst auf ihn zugekommen sei, weil er sich "bedroht" gefühlt habe.
Die Behördenpost schickte er zurück ans Bamf. Eine Benachrichtigungskarte für den Empfänger hinterließ der Postbote nicht, und er deponierte den Bamf-Brief auch nicht zur Abholung in einer Postfiliale, wie es der Vorschrift entsprochen hätte. Auf den Umschlägen vermerkte er: "Zustellung nicht möglich, Wachdienst verweigert Zugang."
Die Lösung
Die Wachleute und die Malteser erzählen eine andere Version der Ereignisse. Danach habe der Postzusteller sich nicht ausweisen wollen, was aber von jedem verlangt werde, der das Gelände betrete; selbst der Einrichtungsleiter Olav Stolze müsse Tag für Tag seinen Quartierspass zücken. Der Darstellung des Postboten, er sei an der ordentlichen Zustellung der Briefe gehindert worden, "müssen wir an dieser Stelle aufs Schärfste widersprechen", so die Malteser.
Außerdem habe ein Mitarbeiter der Malteser den Zusteller so verstanden, dass dieser nicht gerade glücklich darüber sei, eine Flüchtlingsunterkunft auf seiner Route zu haben. Und der Postbote habe Mitarbeiter des Wachdienstes beleidigt - von denen viele einen Migrationshintergrund haben. Der Postbote bestreitet das alles, und er verweist darauf, "dass er in einem Unternehmen arbeitet, in dem viele verschiedene Nationalitäten beschäftigt sind und er auch in diesem Zusammenhang keinerlei negative Haltungen gegen Ausländer oder Flüchtlinge gezeigt" habe.
Und dann stehen am Vormittag des 19. Dezember der Postbote, sein Vertreter, sein Chef, Olav Stolze und ein Mann vom Sicherheitsdienst am Eingang der EA Rahlstedt und diskutieren. Es hagelt Vorwürfe und Versionen, wer hat wen bedroht oder auch nicht, wer hat wen beleidigt oder auch nicht, und die ganze Zeit hält der Zusteller zwei dieser gelben Behördenbriefe in der Hand. Am Ende des Gesprächs quittiert Olav Stolze die Annahme und nimmt die Umschläge mit. Zwei Tage später erhält Stolze einen Anruf vom Vorgesetzten des Postboten: In Zukunft werde die Zustellerin eines anderen Bezirks die Briefe für EA Rahlstedt austragen.

Marianne Wellershoff ist Autorin beim SPIEGEL und beschäftigt sich mit Themen aus Kultur und Gesellschaft. In diesem Blog berichtet sie aus dem Mikrokosmos einer Erstaufnahme. Sie geht der Frage nach, wie Flüchtlinge in Deutschland leben und wie das Land mit ihnen lebt.
Einen Tag danach kommt der Bamf-Brief für die Rashids an. Ihr Antrag ist abgelehnt, subsidiärer Schutz wird nicht gewährt, sie sollen binnen 30 Tagen Deutschland verlassen und in den Irak zurückkehren. Ashna Rashid weint. Mohammed, ihrem Sohn, drohe im Irak der Tod; in Deutschland dagegen, sagt der Vater Awat Rashid, sei er sicher und habe endlich Chancen auf Bildung - Mohammed möchte Zahnarzt werden.
Seit Kurzem besucht Mohammed die Rudolf Steiner Schule in Hamburg Farmsen, sein Lehrer Christian int'Veld sagt über ihn: "Er ist ein ruhiger und aufmerksamer Schüler", aber er habe großen Nachholbedarf beim Lernstoff. Mohammed gehe "offen, ohne aufdringlich zu sein," auf seine Mitschüler zu und sei "in der Klasse gut angenommen" worden.
Die Rashids haben einen Anwalt engagiert, Hartmut Jacobi, er ist Spezialist für Asylrecht. Er wird Klage beim Verwaltungsgericht Hamburg einreichen gegen den Bescheid. Wegen der Flüchtlingskrise hat das Bamf viele neue Mitarbeiter eingestellt, und offenbar waren nicht alle so qualifiziert wie jene, die den Job schon ein paar Jahre machen. Die Folge: Die Stapel mit den abgelehnten Fällen wandern vom Bamf zu den Verwaltungsgerichten, die dann die Entscheidungen überprüfen müssen.
Und das dauert. Vor 2018, sagt Jacobi, rechne er nicht mit einem Urteil. Und es gibt doch noch eine gute Nachricht für die Rashids: Ob abgelehnte Asylbewerber wirklich abgeschoben werden, entscheiden die Länder. 2016 hat Hamburg niemanden in den Irak abgeschoben.