Fukushima-Katastrophe Internationale Atomexperten helfen Japan
Tokio - Mehrere Reaktorblöcke sind zerstört, Brennstäbe liegen teilweise frei, Radioaktivität tritt aus - und noch immer hat Japan keine Methode gefunden, die atomare Katastrophe im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi unter Kontrolle zu bekommen. Bis zum Freitagnachmittag Ortszeit war es laut Regierungssprecher Yukio Edano noch nicht gelungen, die Anlage wieder mit Strom zu versorgen. Die Arbeiten machten aber Fortschritte, sagte er im Fernsehen ( Alle aktuellen Informationen im Liveticker).
Die Bemühungen, das Kraftwerk wieder unter Kontrolle zu bringen, seien ein "Wettlauf gegen die Zeit", sagte der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Yukiya Amano, im japanischen Osaka. IAEA-Mitarbeiter sind erstmals auf dem Weg zum Unglücksmeiler, um sich persönlich ein Bild vom Ausmaß der Schäden zu machen und selbst die radioaktive Strahlung zu messen.
Die japanische Atomaufsicht stufte die Gefährlichkeit des Störfalls inzwischen als hoch ein. Das Unglück im AKW Fukushima wurde von Stufe 4 auf 5 der internationalen Bewertungsskala Ines eingeordnet. Der siebenstufigen Skala zufolge beschreibt Stufe 4 einen "Unfall mit lokalen Konsequenzen", Stufe 5 einen "Unfall mit weitreichenden Konsequenzen".
Schon vor Tagen hatten die französische Atomsicherheitsbehörde (ASN) und das unabhängige US-Institut für Wissenschaft und Internationale Sicherheit (Isis) den Unfall auf der zweithöchsten Stufe 6 - "ernster Unfall" - eingeordnet. Die höchste Stufe 7 (schwerste Freisetzung mit Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt in einem weiten Umfeld) wurde bislang nur einmal erreicht - bei der Nuklearkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl.
Hoffen auf Wasserwerfer und Stromversorgung
Mit einem Krisenkommando aus Technikern, Feuerwehrleuten und Soldaten will Japan die Kontrolle über die beschädigten Reaktoren in Fukushima zurückgewinnen. Mit Wasserwerfern bespritzten Soldaten am Freitag den mit hoch giftigem Plutonium bestückten Reaktor 3. So sollen die erhitzten Brennstäbe gekühlt werden.
Noch ist zweifelhaft, wie erfolgreich das ist. Aus dem AKW entwich laut Regierungssprecher Edano am Freitag weiter radioaktiver Dampf. Dank der jüngsten Einsätze sei die Strahlung leicht zurückgegangen, teilte AKW-Betreiber Tepco mit.
Neben den Wasserwerfern setzt Tepco auf den Wiederaufbau der Stromversorgung, um die Kühlkreisläufe wieder in Gang zu bringen. Wenn die Atomanlage insgesamt besser gekühlt wird, hoffen Experten auf ein allmähliches Abklingen der größten Gefahr. Ob das gelingen kann, ist jedoch wegen der gewaltigen Zerstörungen in der Anlage ungewiss.
Eine erste Starkstromleitung soll liegen. Tepco hofft, die Reaktoren 1 und 2 am Samstag mit Strom versorgen zu können. Für Sonntag sei auch ein Anschluss der Reaktoren 3 und 4 an das Stromnetz geplant, teilte ein Sprecher der japanischen Atomsicherheitsbehörde Nisa mit. Über den Zustand der Technik in den teilweise völlig zerstörten Reaktorhallen gab es keine genauen Angaben.
Der durch das Erdbeben der Stärke 9 verursachte Stromausfall hatte zum Ausfall der Kühlsysteme in den Reaktoren geführt. Bislang ereigneten sich durch die gefährliche Erhitzung in den Reaktoren vier Wasserstoffexplosionen und zwei Brände in vier der sechs Reaktoren, es trat bereits radioaktives Material aus.
Wasserstoff über Reaktor 4
In Block 4 droht das Abklingbecken voll abgebrannter Brennstäbe zu überhitzen und todbringende Strahlung freizusetzen. Über dem Abklingbecken von Reaktor 4 sei jetzt Wasserstoff festgestellt worden, meldete die Vertretung der japanischen Atomwirtschaft JAIF (Japan Atomic Industrial Forum).
AKW-Betreiber Tepco erwog am Freitag erstmals öffentlich, das zerstörte Kraftwerk unter einer Schicht aus Sand und Beton zu begraben. Auch die japanische Behörde für Atomsicherheit kann sich eine "Tschernobyl-Lösung" als letzten Ausweg vorstellen. Nach der Katastrophe in Tschernobyl 1986 wurde mit Sand und Beton eine Deckschicht geschaffen.
Die Notbesatzung der Atomanlage, in den Medien als "Fukushima 50" bezeichnet, hat inzwischen Unterstützung bekommen. Mehr als 120 Männer seien an dem strahlenden Wrack im Einsatz, darunter auch Spezialisten anderer Atomkonzerne, sagte ein Tepco-Sprecher am Freitag. Japanischen Medien zufolge sind rund 140 Feuerwehrleute auf dem Weg zum Kraftwerk, um die dort operierenden Militärs zu unterstützen.
Ministerpräsident Kan verspricht bessere Information
Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA kritisierte die bisherige Informationspolitik Japans. Das Land befinde sich im Kampf gegen einen Super-GAU in einem Wettlauf gegen die Zeit, sagte IAEA-Chef Amano. Japans Premierminister Naoto Kan sicherte ihm bei einem Treffen zu, künftig besser über die Entwicklungen zu informieren: "Ich möchte versprechen, dass wir der IAEA so viele Informationen wie möglich zur Verfügung stellen wollen, auch der ganzen Welt."
Über das Ausmaß der Strahlung hatte es in den vergangenen Tagen häufig widersprüchliche Angaben von japanischer Seite gegeben. Es gab Kritik etwa aus den USA, dass Japan die Gefahren für die Menschen in der Region unterschätzt.
Premierminister Kan wandte sich in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung. "Japan ist in der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir bekommen weltweite Unterstützung. Wir haben keine Zeit, pessimistisch zu sein", sagte er - und verbreitete leichte Zuversicht. Jeder Einzelne solle jetzt überlegen, was er beitragen könne, um das Land wiederaufzubauen. Auch er selbst werde alle seine Kraft aufwenden, sagte Kan. Mit Tränen in den Augen sagte er, Japan werde sich von dieser Katastrophe nicht unterkriegen lassen. Die Menschen dürften nicht pessimistisch sein: "Wir werden Japan neu aufbauen."
Am Montag soll Wind Richtung Tokio drehen
Im Nordosten des Landes leiden die Menschen immer stärker unter den Folgen von Erdbeben und Wasserwalze. Die steigende Atom-Gefahr und Eiseskälte setzen den Überlebenden immer heftiger zu. Dem japanischen Fernsehsender NHK zufolge sind mindestens 25 Flüchtlinge gestorben.
Die Zahl der Opfer erhöht sich stetig: Nach neuesten Angaben stieg die Zahl der Toten auf 6539, berichtete NHK unter Berufung auf die Polizei. Es wird allerdings befürchtet, dass noch weit mehr Menschen der Katastrophe zum Opfer fielen. Noch immer werden mehr als 9000 Menschen vermisst. Es gilt als praktisch ausgeschlossen, dass jetzt noch Opfer lebend aus den Trümmern geborgen werden.
Meteorologen gaben für den Großraum Tokio mit etwa 35 Millionen Menschen zunächst weiter Entwarnung. Bis zum Wochenende wehe der Wind aus Westen und damit vom AKW auf den Pazifik hinaus. Allerdings soll der Wind am Montag wieder Richtung Süden und damit auf Tokio drehen.
Der Höhenflug des japanischen Yen ist vorerst gestoppt. Die G-7-Finanzminister und Notenbankpräsidenten hatten in der Nacht zum Freitag in einer Telefonkonferenz beschlossen, gemeinsam gegen den starken Anstieg vorzugehen. Es ist das erste Mal seit mehr als zehn Jahren, dass die führenden Wirtschaftsnationen gemeinsam am Devisenmarkt einschreiten.