Abriss einer Datschensiedlung Wenn der Bürgermeister die Bulldozer schickt

Moskau: Abriss bei minus 20 Grad
Geblieben sind nur noch Trümmer, bedeckt vom Schnee. Eine Matratze ragt daraus hervor, ein kaputtes Bobbycar. Eben stand hier noch ein zweistöckiges Haus. Jetzt sortieren Arbeiter den Schutt, verladen ihn auf die Ladefläche eines Lkw. Retschnik, 400 Häuser, im Winter 70 Einwohner, im Sommer bis zu 3.000, eine kleine Datschensiedlung im Westen Moskaus, stirbt.
Die ersten Bagger kamen Ende Januar. Mitten in der Nacht, um halb drei. Seither reißen sie ein Gebäude nach dem anderen nieder, insgesamt schon mehr als 20.
Retschnik, malerisch direkt an der Moskwa gelegen, soll weg, so will es die Stadtregierung. Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow nennt die Aktion einen "Triumph des Rechts". Die Häuser stünden in einem Naturschutzgebiet, heißt es, auf einem Grundstück der stadteigenen Firma Moskwa Kanal. "Schon vor zwei Jahren hat sie ein Gericht für illegal erklärt", wettert Luschkow. Der Abriss folge nur dem Urteilsspruch.
Pawel Mosolow tritt vor sein Haus, noch steht es. Seit er denken kann, kommt er als Sommerfrischler in die Datschensiedlung. Er war fünf Jahre alt, als ihn seine Eltern das erste Mal mit nach Retschnik nahmen, heute kommt er immer noch, mit seiner Frau und mit seinen Kindern. Der 59-Jährige mit der sonoren Stimme hat einst Autos gebaut, bevor er in Rente ging. Tiefe Ringe liegen um seine Augen, Tag für Tag bewacht er jetzt sein Haus. Aber er weiß, dass er nichts ausrichten kann, wenn Luschkows Bulldozer wieder kommen. Eine Woche hat er noch, haben sie gesagt.
Russlands Zeitungen berichten jetzt täglich über Retschnik und auch das Fernsehen. Denn der Skandal um das kleine Dorf wirft ein Schlaglicht darauf, wie Bürger zum Spielball der Behörden werden und wie ruppig die Staatsmacht zweifelhafte Gerichtsurteile durchsetzt. Denn der plötzliche Abriss erfolgt nicht nur ohne Entschädigung, die Bewohner sollen ihn auch noch bezahlen. Und er begann zu nachtschlafender Zeit im Januar, bei Temperaturen von minus 20 Grad.
Mit jedem Tag gleicht Retschnik mehr und mehr einem Trümmerhaufen. Pawel zeigt auf den Zaun aus Wellblech um sein Grundstück. "Den", sagt er, "habe ich mit meinem Vater gebaut." In jahrelanger Kleinarbeit hat er später das zweigeschossige Holzhaus errichtet. "Nach einer Bauanleitung aus einem Lehrbuch", erzählt er.
"Während der Blockade sind wir immer über das Eis"
Einen Steinwurf von Pawels Häuschen entfernt liegt die Moskwa, etwas Schnee bedeckt den zugefrorenen Fluss. "Während der Blockade sind wir immer über das Eis", berichtet Pawel. Die Blockade: Anfang Dezember hatte ein Gericht den Abriss angeordnet. Die Menschen von Retschnik versperrten die einzige Zufahrtsstraße mit ihren Autos und verschanzten sich in ihren Häusern. Die Polizei sollte nicht sehen, wie sie ihre Häuser verließen, um ihre Kinder zur Schule zu bringen oder einkaufen zu gehen, also gingen sie über den Fluss.
Jetzt ist ihr Widerstand gebrochen. Retschnik verschwindet.
Gleich auf der anderen Flussseite liegt die Megapolis, das boomende Moskau. Ein Wolkenkratzer im Rohbau wächst da in den Himmel, daneben Plattenbauten. Ein paar Kilometer von Retschnik entfernt gibt es eine Brücke über die Moskwa, achtspurig, doch der Verkehr staut sich trotzdem.
Bei seiner Gründung 1957 lag Retschnik noch im Moskauer Umland, inzwischen hat die Metropole das Dörfchen umwuchert. Die Rubljowka-Chaussee, die Meile, an der Russlands Reiche und Mächtige wohnen, ist jetzt nahe.
Moskaus Bürgermeister Luschkow versichert, das Areal von Retschnik in einen Erholungspark umwandeln zu wollen. Pawel und die anderen Bürger von Retschnik glauben dagegen, Luschkow und seine Beamten wollten das Gebiet als Bauland ausweisen - und dann teuer verkaufen.
Der gekreuzigte Christus, Medwedew und Putin
"Retschnik ist exemplarisch", sagt Ludmilla Danilowa, Chefin der russischen Datschengenossenschaft. "Der Abriss zeigt, dass in Russland eben nicht Gesetze regieren, sondern korrupte Beamte und das große Geld."
Habe Russlands Parlament nicht 2006 ein Gesetz verabschiedet, demnach Bürger ihre Datschen aus der Sowjetzeit gegen geringe Gebühr registrieren können?, fragt Danilowa. Denn in der Sowjetunion hatten sie zwar Baugenehmigungen bekommen, aber nicht das Eigentum an Grund und Boden. Doch auch diese "Datschenamnestie" hat Retschnik nicht retten können.
Danilowas Misstrauen nährt auch Jelena Baturina, Luschkows Gattin. Sie hat eine sagenhafte Karriere hinter sich: Einst Sekretärin des Stadtvaters, ist sie heute Russlands reichste Frau - dank lukrativer Immobiliengeschäfte in Moskau. Nach einer Befragung des renommierten Lewada-Zentrums glauben 65 Prozent der Moskauer, dass sie das nur mit Hilfe ihres Mannes geschafft hat.
Manche Retschniker hoffen jetzt noch auf Beistand von höheren Mächten: vom Himmel oder vom Kreml. Gleich am Ortseingangsschild haben sie eine Ikone des gekreuzigten Christus aufgehängt, dahinter ein Plakat von Präsident Dmitrij Medwedew und Wladimir Putin. Medwedew, der gern über die Modernisierung Russlands und den Kampf gegen Behördenwillkür spricht, hat lange geschwiegen.
Jetzt hat er Bundesbehörden mit der Prüfung beauftragt, ob es gerechtfertigt war, dass Luschkow die Bulldozer gegen die Dörfler um Pawel in Stellung brachte.
"Keine Angst vor Bulldozern"
Retschnik ist kein Einzelfall. Ganz in der Nähe befindet sich die Luxussiedlung Ostrow Fantasij, die "Insel der Phantasien". Luschkow hat schon gedroht, dass sie als nächstes auf der Abrissliste steht. Die exklusive Siedlung, Quadratmeterpreis 12.500 Euro, liegt ebenfalls im Naturschutzgebiet und wurde erst im vergangenen Jahrzehnt gebaut. Und natürlich gab es keine Baugenehmigung für schicke Villen, sondern für eine Sportschule und ein Behindertenerholungsheim.
Und doch stehen die Chancen der Bewohner auf Rettung ihrer Häuser ungleich besser als nebenan in Retschnik: In der Siedlung wohnen hochrangige Beamte, auch zwei Minister der Regierung von Wladimir Putin und Oligarchen. Außerdem dürfen laut russischem Zivilgesetzbuch Häuser dann nicht abgerissen werden, wenn sie mehr wert sind als das Grundstück, auf dem sie stehen.
In Retschnik geht Pawel vom Ufer der Moskwa zum Haus des alten Philip. Der 91-Jährige ist einer der wenigen, die das ganze Jahr über in dem schwindenden Dörfchen leben. Der Alte wohnt seit 1957 in Retschnik, er hat es damals mit aufgebaut. Jetzt will er der letzte sein, der geht.
Im Zweiten Weltkrieg hat er gegen die Deutschen gekämpft. "Da habe ich keine Angst gehabt", sagt er, "und vor den Bulldozern habe ich erst recht keine." Aber all das erinnere ihn in diesen Tagen immer wieder an ein altes russisches Sprichwort: "Hab ich das Sagen, bist du der Idiot, hast du das Sagen, bin ich der Idiot."