Online-Kinder-Börse Adoptivkind mit Rückgabegarantie

Online-Kinder-Börse: Adoptivkind mit Rückgabegarantie
Foto: REBECCA COOK/ REUTERS"Meine Eltern wollten mich nicht. Russland wollte mich nicht. Ich wollte nicht mehr leben", sagt Inga, die die meiste Zeit ihrer Kindheit in einem Heim in Russland verbracht hat - voller Hoffnung, dass sich Erwachsene ihrer annehmen, ihre Eltern sein wollten. Ingas leibliche Mutter, eine Prostituierte, hatte sie weggegeben, als sie noch ein Baby war. Ihren Vater hat sie nie kennengelernt.
1997, Inga war zwölf Jahre alt, wurde sie adoptiert - von einem Paar aus Amerika. Endlich würde sie eine Familie haben, zur Schule gehen, Freunde finden, freute sich Inga, wie sie in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters sagt. Das Glück währte kein Jahr. Ihre neuen Eltern wollten sie nicht mehr.
Als sie mit allen offiziellen Mitteln scheiterten, die Adoption rückgängig zu machen, suchten sie sich einen anderen Weg: Via Internet inserierten sie Inga, das ungewollte Kind, und suchten für sie ein neues Zuhause. Innerhalb von sechs Monaten schickten sie das Mädchen zu drei Familien. In der einen sei sie von ihrem neuen Adoptivvater sexuell belästigt worden, in einer anderen habe sie Sex mit ihrem Adoptivbruder gehabt, der auf sie urinierte habe. Mit 13 Jahren kam Inga in die Psychiatrie. Ihre Adoptivmutter sagt, es habe Tage gegeben, an denen sie dachte, für Inga gäbe es kein Happy End - und es sei besser für sie, wenn "Gott sie zu sich nähme".
Heute ist Inga 27 Jahre alt und spricht im Rahmen einer fünfteiligen Reuters-Reportage erstmals über ihre Erfahrungen als eines von 250.000 Kindern, die aus ihren Heimatländern seit den späten neunziger Jahren in die USA gekommen sind.
"Wir hassen dieses Kind abgrundtief"
Inga ist ein Opfer der Online-Kinder-Börse "Adoption-from-Disruption", die die Reuters-Journalisten aufgedeckt haben: Amerikaner, die ihre adoptierten Kinder wieder loswerden wollten, suchten über Yahoo und Facebook nach neuen Pflegeeltern. Die Inserate in den illegalen Online-Foren lauteten: "Suchen neues Zuhause für vier Jahre alten Jungen. Grund: Wir hassen ihn abgrundtief." Oder: "Dieser hübsche Junge Rick kam vor einem Jahr aus Indien. Er ist gehorsam und bestrebt, gefällig zu sein."
Die Übergabe ging laut Reuters problemlos über die Bühne: In den USA reicht ein notariell beglaubigtes Schreiben, um ein Kind in die Obhut eines anderen Erwachsenen zu übergeben. Reuters hat nach eigenen Angaben 5029 Einträge analysiert, die über den Zeitraum von fünf Jahren in einem Yahoo-Forum gepostet wurden. Demnach wurde ein Kind pro Woche zur "privaten" Adoption freigegeben. Die meisten waren zwischen sechs und vierzehn Jahre alt und meistens Waisenkinder, die aus Russland, Kasachstan, Äthiopien, der Ukraine, China und anderen Ländern stammen. Das jüngste war zehn Monate alt.

Adoption übers Internet: Marktplatz für Ungewollte
Es gab Reuters zufolge auch amerikanische Kinder in den Offerten - diese machten acht Prozent der zu vermittelnden Kinder aus. Nachdem die Nachrichtenagentur Yahoo auf "Adoption-from-Disruption" aufmerksam gemacht hat, nahm der Internet-Dienstleister diese sowie fünf weitere Gruppen vom Netz.
Um auf legale Weise an ein Pflegekind in den USA zu gelangen, müssen Bewerber normalerweise einige Hürden nehmen. Die Behörden prüfen, ob sie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind, es gibt Hausbesuche, und in den meisten Bundesstaaten müssen zukünftige Eltern an intensiven Vorbereitungskursen teilnehmen. Hinterher besuchen Sozialarbeiter regelmäßig die Familien um sicherzustellen, dass es dem Kind gutgeht.
In den Online-Börsen passierte all das nicht. Es gibt keine speziellen Gesetze, ebenso keine gezielte Aufsicht durch die Behörden. Vielen Eltern scheint egal zu sein, wem sie ihr Kind anvertrauen. Eine Frau, die einen Elfjährigen im Netz zur Weitergabe anbot, den sie nach eigenen Angaben aus Guatemala adoptiert hatte, gab zu: "Ich schäme mich total, das zu sagen, aber wir hassen diesen Jungen wirklich!" Eine andere Mutter schrieb über ihre Tochter: "Ich hätte sie auch einem Serienmörder gegeben, so verzweifelt war ich."
"Mama, wie gut kennst Du diese Leute?"
Auch Melissa Puchalla hatte versucht, ihre liberianische Adoptivtochter Quita über eine Online-Börse abzuschieben - und bereits innerhalb von zwei Tagen neue Eltern im Internet gefunden: Nicole und Calvin Eason. Quita war bereits 16 Jahre alt und nach Puchallas Aussage gewalttätig. Die "neue" Adoptivmutter schreckte das nicht ab. Sie könne damit umgehen, keine Sorge, teilte sie per Mail mit.
Nur Quita fragte niemand. Melissa Puchalla zeigte dem Mädchen ein Bild im Internet. "Sie sagte, das sei eine nette Familie. Und ich sagte, Mama, wie gut kennst du diese Leute, wenn du sie nur online getroffen hast?", berichtet Quita im Gespräch mit Reuters. Die erste Nacht sollte sie im Bett der neuen Eltern verbringen, die Mutter schlief nackt.
"Sie adoptieren jemanden, damit er hierherkommt und mit ihnen lebt, und dann wollen sie die Person nicht?", sagt Quita, heute 21 Jahre alt. "Ich kann das vergeben, aber nicht vergessen."
Auch Glenna Muellers Sohn, 10, landete bei Nicole Eason. Mueller hatte genug von den Wutanfällen des Adoptivsohnes. "Ich konnte ihn nicht mehr sehen", räumt sie heute ein. Sie hatte nur noch einen Wunsch: "Ich wollte, dass dieses Kind geht." Auch, weil sie sich mehr um die anderen sieben Kinder habe kümmern wollen, die sie adoptiert hatte.
Glenna Mueller traf Nicole Eason und ihren neuen Lebenspartner Randy Winslow in einem Hotel am Highway im Nirgendwo zwischen Illinois und Wisconsin. Sie kannte nicht die Adresse der neuen Eltern und wusste auch sonst nicht viel über sie: Weder ob sie arbeiteten noch verheiratet waren. Erst recht nichts von Easons leiblichen Kindern, die ihr weggenommen worden waren - und schon gar nichts über Winslows Leidenschaft für kleine Jungen. Glenna Mueller wusste nur eins: Dieses Paar würde ihr das Kind abnehmen, das sie nicht länger ertrug - und das reichte ihr.
Randy Winslow wurde eineinhalb Jahre später zu zwanzig Jahren Haft verurteilt - wegen Besitzes und Verbreitung von Kinderpornografie.