Sexuell belästigte Frauen in Ägypten "Man will uns einschüchtern"

Sexuelle Übergriffe auf Frauen sind in Ägypten ein alltägliches Problem. Seit der Revolution wehren sich die Opfer. Die Tahrir-Platz-Aktivistin Lyla El-Gueretly verklagt jetzt einen Mann, der sie auf offener Straße belästigt und verprügelt hat.
Ägypten: Sexuelle Belästigung auf offener Straße wird immer häufiger

Ägypten: Sexuelle Belästigung auf offener Straße wird immer häufiger

Foto: Ahmed Abdelatif/ AP

Kairo - Lyla El-Gueretly aus Kairo wird am 19. Juni vor Gericht aussagen. Die 30-jährige Lehrerin verklagt einen Mann, der sie in der Innenstadt von Kairo belästigte. Als sie ihn zur Rede stellte, verprügelte er sie auf offener Straße.

Sexuelle Belästigung ist ein altes Problem in Ägypten. Doch seit der Revolution 2011 hat es sich noch weiter verschärft. In einer neuen Uno-Studie gaben mit 99,3 Prozent nahezu alle befragten Ägypterinnen an, belästigt worden zu sein. Drei Viertel der Befragten sagten, dass ihnen dies täglich widerfahre.

Eine Mehrzahl der Belästigungen geht über Verbalattacken hinaus. Viele der befragten Frauen berichten, dass die Angreifer ihnen an den Busen oder Po griffen. In manchen Fällen kam es zu Vergewaltigungen.

Doch seit der Revolution setzen sich einzelne Frauen wie Lyla El-Gueretly vermehrt zur Wehr. Viele von ihnen waren 2011 bei den Protesten auf dem Tahrir-Platz dabei. Sie haben für die Rechte aller Ägypter gekämpft. Nun fordern sie ihre eigenen ein.

Im Interview spricht sie über den Vorfall und die alltäglichen Belästigungen in Ägypten.

SPIEGEL ONLINE: Frau El-Gueretly, was ist Ihnen genau passiert?

El-Gueretly: Ich wollte zu einer Demonstration und war im Taxi auf der Brücke des 6. Oktober im Zentrum von Kairo unterwegs. Es war Stau. Ich bin aus dem Taxi gestiegen und auf dem Gehweg weitergegangen. Ich kam an einem Bus vorbei, und ein Mann hat mir aus dem Fenster heraus Dinge zugerufen wie "Hey, du Schlampe!" und dann obszöne Gesten mit seinen Händen und Mund gemacht.

SPIEGEL ONLINE: Wie haben Sie auf seine Beschimpfungen reagiert?

El-Gueretly: Ich habe ihm zugerufen: "Schande auf deinen Bart! Du willst ein religiöser Mann sein und verhältst dich so?" Da ist er aus dem Bus ausgestiegen. Er hat mich angebrüllt, was ich mir denn einbilde. Er hat mich beschimpft. Ich habe ihm geantwortet, dass er keinerlei Anstand besitze. Daraufhin ist er ausgerastet und hat mich verprügelt.

SPIEGEL ONLINE: Hat Ihnen denn niemand geholfen?

El-Gueretly: Erst nicht. Er hat mich geschlagen, auch ins Gesicht, immer wieder. Ich war erst geschockt. Dann habe ich geschrien: "Du Belästiger!", und ein paar Leute sind mir zu Hilfe gekommen. Hinterher haben sie sich bei mir entschuldigt, dass sie nicht sofort eingegriffen haben. Sie sagten: "Wir dachten, das wäre dein Mann." Unfassbar. Dann wäre es okay für ihn gewesen mich zu schlagen, oder was?

SPIEGEL ONLINE: Was hat Sie dazu gebracht, Anzeige zu erstatten?

El-Gueretly: Ich war so wütend. Er stand einfach nur da mit diesem Selbstbewusstsein, als hätte er alles Recht der Welt für sein Verhalten. Da hat es mir gereicht. Ich habe zwei Zeugen mitgenommen und bin zur Polizei.

Lyla El-Gueretly ist eine Ausnahme. Kaum eine Ägypterin erstattet Anzeige gegen ihre Angreifer. Sexuelle Belästigung ist nach wie vor ein Tabu. Die Uno-Studie kommt zu dem Schluss, dass viele Opfer Angst um ihren eigenen Ruf haben oder damit rechnen, dass die Polizei ihre Beschwerde wegen tätlicher Übergriffe nicht ernst nehmen könnte.

Oftmals gebe die Polizei sogar den angegriffenen Frauen selbst die Schuld, sagt die Frauenrechtsorganisation Egyptian Center for Women's Rights. Im Juni wurde in Kairo eine kleine neue Frauen-Polizeieinheit geschaffen, die Gewalt gegen Frauen bekämpfen soll.

Seit der Revolution 2011 gibt es mehr Frauenstimmen, die sich laut und vor allem öffentlich wehren. Im Frühjahr berichtete die Ägypterin Jasmin al-Barmawi im Fernsehen davon, wie sie auf dem Tahrir-Platz von mehreren Männern vergewaltigt wurde. Die Aktivistin Soraya Bahgat gründete die Tahrir-Bodyguards-Gruppe, um Frauen zu schützen.

SPIEGEL ONLINE: Sind sexuelle Übergriffe denn häufiger geworden seit der Revolution?

El-Gueretly: Auf jeden Fall. Es werden immer mehr. Das ist auch politisch motiviert. Ich war bei der Revolution von Anfang an dabei - wie viele Frauen. Wir standen an vorderster Front. Und nun will man uns aus dem öffentlichen Raum wieder zurückdrängen. Man will uns einschüchtern.

SPIEGEL ONLINE: Durch sexuelle Belästigungen?

El-Gueretly: Einige Islamisten verbreiten die Ansicht, dass Frauen, die sich nicht konservativ kleiden oder allein auf der Straße unterwegs sind, selbst schuld sind, wenn ihnen so etwas passiert. Nur weil ich keinen Schleier mehr trage, soll es in Ordnung sein, mich zu belästigen? Das ist absolut inakzeptabel.

Nach den Massenvergewaltigungen auf dem Tahrir-Platz hatten manche Islamisten den Frauen die Schuld dafür gegeben. Der salafistische Abgeordnete und hochrangige Polizist Adel Abd al-Maksud Afifi sagte: "Manchmal trägt ein Mädchen 100 Prozent zu ihrer eigenen Vergewaltigung bei, wenn sie sich in solche Umstände begibt." Reda Saleh al-Hefnawi, ein Abgeordneter der Muslimbruderschaft, sagte: "Wie soll das Innenministerium Frauen schützen, wenn sie sich mitten zwischen Männer stellen?"

Verschleierte Frauen sind allerdings genauso häufig von sexuellen Übergriffen betroffen, heißt es in der Uno-Studie. Zudem wurden auch Belästiger zu ihrem Verhalten befragt. Diese sagten, dass ihr Ziel "attraktive Frauen" seien. Dabei konzentrierte sich ein Drittel auf verschleierte, die Hälfte auf unverschleierte Frauen.

SPIEGEL ONLINE: Wie hat Ihr Umfeld auf Ihre Anzeige reagiert?

El-Gueretly: Erst haben mir alle gesagt: Mach kein Drama daraus. Einige fragten: Was wolltest du denn da auf der Brücke? Was hattest du denn an? Als ob das eine Rolle spielen würde! Seit es die ersten Berichte über meinen Fall gegeben hat, hat es sich ein wenig geändert. Manche sagen jetzt: Das ist wichtig und richtig, was du tust.

SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie, dass Sie vor Gericht Erfolg haben werden?

El-Gueretly: Ehrlich gesagt habe ich keine großen Erwartungen. Wahrscheinlich wird er gar nicht erst im Gericht erscheinen. Ich glaube auch nicht, dass eine Strafe für den Belästiger Teil der Lösung wäre. Aber ich hoffe, dass andere Frauen sich durch mein Beispiel ermutigt fühlen, auch für ihre Rechte einzustehen und diese einzufordern.

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