Religion und Macht in Afghanistan »Für die Taliban ist die Scharia die einzige legitime Gesellschaftsordnung«

Taliban in Kabul: »gemäßigter, diplomatischer, teilweise sogar opportunistisch«
Foto: STRINGER / REUTERSDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
SPIEGEL: Herr Khorchide, in Afghanistan ist Religion immer auch Herrschaftsinstrument. Sind die Taliban selbst so strenggläubig, wie sie es von der Bevölkerung einfordern?
Khorchide: Sie vertreten eine radikale Auslegung des Islam, der die Mehrheit der Muslime nicht zustimmt. Aber die Taliban identifizieren sich mit dem Islam, deshalb kann man ihnen ihren Glauben nicht einfach absprechen.
SPIEGEL: Sie nutzen den Glauben also nicht vorrangig für den Machterhalt?
Khorchide: Doch. Allerdings machen die Taliban keinen Unterschied zwischen politischer Herrschaft und Religion. Für sie ist die Scharia, Gottes Gesetz, die einzige legitime Gesellschaftsordnung, Demokratie und Menschenrechte haben hier keinen Platz. Derzeit versucht der Gelehrtenrat allerdings in Absprache mit den politischen Akteuren, die Scharia etwas gemäßigter zu interpretieren, damit sie den politischen Anforderungen der neuen Talibanherrscher entspricht. Sie handeln anders als ihre Vorgänger, die in den Neunzigerjahren das »Islamische Emirat Afghanistan« errichteten.
SPIEGEL: Was unterscheidet die neue Herrscherriege von der alten?
Khorchide: Die neuen Taliban geben sich gemäßigter, diplomatischer. Sie haben politisch dazugelernt, sind pragmatischer und teilweise sogar opportunistisch geworden – weil sie wissen, dass sie auf Unterstützung aus dem Ausland angewiesen sind. Sie brauchen wirtschaftliche Stabilität, um ihre Macht zu festigen. Dafür benötigen sie die Anerkennung der Weltgemeinschaft und finanzielle Hilfen. In den Neunzigerjahren nutzten die Taliban Gewalt, um ihre Ziele durchzusetzen. Davon distanzieren sie sich jetzt vorgeblich, sie setzen sich sogar mit Vertretern der US-Regierung an einem Tisch. Mit »Ungläubigen« zu verhandeln – das wäre früher unmöglich gewesen.
SPIEGEL: Um solche Verhandlungen zu legitimieren, wird der Koran herangezogen.

In Kandahar feiern Bewohner den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan
Foto: STRINGER / EPAKhorchide: Und die Lesart der Taliban ist selektiv. Der Koran ist ein ambivalentes Buch. Darin findet man keine einheitlichen Aussagen etwa zum Verhältnis zu Nichtmuslimen. Weil die Taliban es ablehnen, die heilige Schrift historisch einzuordnen, nehmen sie den Koran wörtlich, aber selektiv. Das heißt jeder sucht sich die Stelle heraus, die sein Anliegen untermauert. Ob Krieg oder Frieden mit Nichtmuslimen – eine ahistorische Lesart des Korans liefert für beides eine Legitimation.
SPIEGEL: Der »Islamische Staat« in Afghanistan hat die Taliban wegen ihrer Kontakte mit dem Erzfeind USA umgehend zu Verrätern erklärt.
Khorchide: Die Taliban haben heute zwei Sicherheitsprobleme: auf der einen Seite den »Islamischen Staat«, auf der anderen Seite die Hardliner in den eigenen Reihen. Nicht alle Taliban unterstützen die neue Verhandlungsstrategie, es entstehen Splittergruppen, die ihrerseits Anschläge auf ehemalige Weggefährten verüben könnten. Die Taliban sind keine homogene Gruppe, auch keine geordnete Armee. Aber sie sind seit Jahrzehnten geschult darin, Krieg zu führen. Es wird im Kampf gegen innere und äußere Feinde weiter Auseinandersetzungen und Anschläge geben.
SPIEGEL: Der Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan war von fehlenden Absprachen, Chaos und Missmanagement geprägt. Auch beim Aufbau demokratischer Strukturen hat der Westen versagt. Warum?
Khorchide: Die USA und ihre Verbündeten haben die afghanische Gesellschaft nicht von unten reformiert. Sie haben Milliarden ins Militär gesteckt, anstatt mehr Geld in Aufklärung, in Schulen, in Lehrerausbildung und Errichtung demokratischer Institutionen zu investieren. Menschen, die im entlegensten Winkel leben, Wissen und demokratische Grundwerte zu vermitteln, hätte so viel mehr gebracht als alle Waffen.
SPIEGEL: Ist das Ziel, einen Nationalstaat mit demokratischer Zentralregierung etablieren zu wollen, nicht generell zum Scheitern verurteilt in Ländern wie Afghanistan, wo vielerorts ein Clan-Prinzip regiert?
Khorchide: Es ist kompliziert, demokratische Systeme auf Stammesgesellschaften zu übertragen, wo die Loyalität dem Clan und seinen Bräuchen gilt. Aber das heißt nicht, dass wir nicht demokratische Werte vermitteln sollten. Damit dies gelingt, müssen wir lernen, die kulturelle Sprache und Eigenheiten der Menschen vor Ort zu berücksichtigen. Stammesidentitäten sollten mit demokratischen Werten und dem Glauben an eine plurale Gesellschaft in Harmonie gebracht werden. Das Endziel muss Demokratie sein.
SPIEGEL: Aber Demokratie und Scharia schließen sich aus.
Khorchide: Das ist eine Frage der Interpretation. Meine These ist, dass sich zuerst die gesellschaftlichen Strukturen ändern müssen, bevor sich ein liberales Verständnis vom Islam etablieren kann. Erst wenn die Menschen sich als autonomes Wesen begreifen, als Subjekt und nicht mehr als fremdbestimmtes Objekt, beginnen sie, Autoritäten zu hinterfragen und demokratisch zu denken. Und dann können sie Nein sagen zu restriktiven Auslegungen des Islam.
SPIEGEL: Selbst in Deutschland hat der liberale Islam Schwierigkeiten, sich durchzusetzen. Wer bremst?
Khorchide: Viele der Repräsentanten der Muslime in Deutschland, die zum Teil als offizielle Ansprechpartner für den Staat gelten, lehnen eine liberale Auslegung des Islam ab. Es sind aber diese Religionsgemeinschaften, die den religiösen Diskurs stark bestimmen, sie entscheiden, wer Religionslehrer an den Schulen wird und welche Inhalte vermittelt werden. Noch immer predigen in den meisten Moscheen Imame, die entweder im Ausland oder fern von der Lebenswirklichkeit der Menschen hier ausgebildet wurden. Die liberalen Muslime haben kaum Strukturen in Deutschland, weil sie kaum über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen. Das ist ein Dilemma.
SPIEGEL: Der Generalvorwurf der konservativen an die liberalen Muslime ist, sie seien vom Westen gesteuert und mithin unglaubwürdig. Auch Sie persönlich wurden verunglimpft und als Häretiker beschimpft.
Khorchide: Solche Verschwörungstheorien sind nur vorgeschoben, um sich nicht der sachlichen Debatte zu stellen. Die Hassnachrichten, die ich zum Beispiel von Anhängern der Muslimbruderschaft bekomme oder die Morddrohungen aus dem salafistischen Lager, wegen der ich unter Polizeischutz öffentlich auftrete, beziehen sich nicht wirklich auf inhaltliche Argumente, sie sind persönliche Diffamierung. Die Urheber haben Angst, ihre Deutungshoheit über den Islam zu verlieren. Hier geht es um Macht.
SPIEGEL: Sollte der Westen mit den Taliban verhandeln?
Khorchide: Die Taliban sind heute eine Realität, mit der wir umgehen müssen. Leidtragende beim Aussetzen von Verhandlungen ist die Bevölkerung vor Ort. Wir dürfen sie nicht im Stich lassen.
SPIEGEL: Womit müssen Frauen in Afghanistan jetzt rechnen?
Khorchide: Die Frauen werden weniger Rechte und Freiheiten haben als vor der Machtübernahme, aber mehr als unter den Taliban der Neunzigerjahre. Es sind die Frauen und die Freigeister in Afghanistan, die jetzt für Veränderungen kämpfen müssen. Wir sollten sie dabei unterstützen, indem wir ihnen Mut machen, in Bildung investieren und vor Ort Programme aufbauen. In Verhandlungen sollten die westlichen Staaten klipp und klar Bedingungen für eine mögliche wirtschaftliche Unterstützung des Regimes formulieren.