Angeblicher Babyboom Die Kinder-Lüge vom Prenzlauer Berg

Kinderwagenflotte: Die Eltern wollen sich nicht mehr verstecken
Foto: UWE LEIN/ APIn "Liebes Tagebuch", seinem schönsten Film, hat der große italienische Autorenfilmer Nanni Moretti sich auch mit Kindern beschäftigt. Er besucht dort die Insel Salina, auf der nur intellektuelle, übervorsichtige Eltern leben. Es gibt eine herrliche Szene, in der verschiedene Erwachsene versuchen, irgendwo anzurufen, aber die Kinder gehen ans Telefon und geben ihnen einfach nicht Mama oder Papa. Erst muss der Anrufer noch vormachen, wie die Katze macht. Und dann das Schaf. Und der Hahn. So sind alle Telefonzellen der Stadt mit Männern und Frauen besetzt, die verzweifelt "muh-muh", "chrr-chrr" oder "kikeriki" schreien.
Italien hatte seine Debatte über neue Erziehungsmethoden schon in den Neunzigern, damals kam der Film heraus. Deutschland führt seine Debatte um Kinder jetzt. Erst wurde gewarnt vor der "Überalterung" der Gesellschaft, dann fiel der Blick auf den Nachwuchs, und mal war angeblich ein "Lob der Disziplin" nötig, mal ein "Krieg gegen kleine Tyrannen". Ursula von der Leyen führte das Elterngeld ein, damit die Mittel- und Oberschicht mehr Kinder bekommt: Es war das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass eine Sozialleistung Besserverdienende unterstützt, nicht die Schwachen.

Eltern-Tipps: Dinge, die das Leben mit dem Kind leichter machen
Ein Kind ist für manche heute ein Projekt. Man bekommt es nicht einfach so, es wird generalstabsmäßig durchgeplant. Darin liegt auch die Chance für Unternehmen, die Lage auszunutzen. Um alles richtig zu machen, geben manche mehr Geld für ihr Kind aus als für sich selbst.
Überall in Deutschland: Vom Szeneviertel zum Kinderviertel
Auch Deutschland hat sein Salina. Es gibt ein paar Gegenden, meist in Großstädten, die zurzeit als "Kinderstadtteile" gelten. Meist sind es Orte, die vor zehn Jahren angesagte Szeneviertel waren. Wer damals als Student, Barkeeper oder Lebenskünstler kam, hat heute Kinder. In Hamburg-Ottensen, auch in Teilen Eppendorfs, im Münchner Glockenbachviertel, in der nördlichen Dresdner Neustadt, in Köln-Sülz oder dem Frankfurter Nordend. Und vor allem in Prenzlauer Berg in Berlin. Der Stadtteil, direkt östlich der ehemaligen Grenze, war nach der Wende ziemlich tot, wurde dann zur Szenegegend, dann kamen die Cafés und die kleinen Designläden. Jetzt sind die Kinderwagen da.
Das Stadtmagazin "Zitty" schrieb unlängst in einer Titelgeschichte über das "Feindbild Familien" in Prenzlauer Berg: Gebildet und erwerbstätig seien die, hätten zwei bis drei Kinder und gingen samstags in den Bio-Markt. Nun könnte man sagen: Na und? Vielleicht immer noch moderner und cooler als das Leben in Zuffenhausen. Aber: "Prenzlauer Berg ist nicht mehr das Mekka der verrückten Nudeln, es ist - oft geschrieben, aber wahr - Pregnancy Hill." Da es partout keine Statistik gibt, die diese Behauptung untermauert, macht man seine bloße Behauptung eben zu einem starken Eindruck oder einem Gefühl: "Gefühlt jede Zweite ist hier mit Kinderwagen unterwegs", schreibt der SPIEGEL im November 2010. Und Gustav Seibt, der große Essayist der "Süddeutschen", schreibt in einem Artikel tatsächlich von "Kinderfaschismus"; wegen der Assoziation von Tyrannei durch Kinder habe "das böse Wort einen Beigeschmack von Wahrheit", und er behauptet, Prenzlauer Berg sei die "kinderreichste Gegend Europas".
Seit beinahe zehn Jahren geistert die Legende durch die Medien, Prenzlauer Berg sei eine der geburtenreichsten Gegenden Deutschlands, ach was, Europas sogar. Eine Berliner Lokalzeitung machte vor Jahren den Anfang, nannte den Stadtteil "Kinder-City" und behauptete, die Geburtenrate habe 2004 bei 2,1 Geburten pro Frau gelegen. Niemand hinterfragte, was da behauptet wurde: Das wäre auf dem Niveau von Brasilien. Selbst Indien, das Land, für das Wörter wie "Bevölkerungsexplosion" erfunden wurden, kommt nur auf 2,6. Tatsächlich wurden in Prenzlauer Berg damals 1,0 Kinder pro Frau geboren, besonders wenig. Doch der Mythos war in der Welt. Man sah aus den Parks die Gammler verschwinden, und es kamen Mütter. Der Stadtteil hieß plötzlich "Familienmekka", "Babyboom-Stadtteil", "Kinder-City", "Enklave der Fruchtbarkeit", "Pregnancy Hill", "Gebäroase".

Eltern-Tipps: Baby-Krempel, den die Welt nicht braucht
Prenzlauer Berg ist ein Beispielfall dafür, wie die Deutschen mit dem Thema Kinder umgehen, wenn sie irgendwo eine Oase der Jungfamilien vermuten. Äußerst bissig reagieren sie nämlich. Das überrascht zunächst. Sonst wird doch immer eine angebliche Überalterung beklagt. Daher könnte man sich ja auch freuen über Kinder.
Die gängigen Thesen sind schlicht falsch
Das Interessanteste an all diesen Thesen ist: Sie sind falsch. Prenzlauer Berg ist weder extrem kinderreich, noch gebären die Frauen dort mehr als anderswo in Deutschland. Die Bezeichnung "Pregnancy Hill" würde ja voraussetzen, dass wenigstens überdurchschnittlich viele Frauen schwanger sind in der Gegend. Nicht einmal das ist der Fall. In Prenzlauer Berg ist die Zahl der Geburten zwischen 2005 und 2010 zwar um rund 30 Prozent gestiegen. Die Geburtenrate des Viertels ist heute aber immer noch nur durchschnittlich. Im Jahr 2008 kamen in Prenzlauer Berg 44 Kinder pro 1000 Frauen im gebärfähigen Alter zur Welt. Der Bundesdurchschnitt liegt zurzeit bei 43, in Berlin bei 42 Geburten.
Besonders kinderreich ist Prenzlauer Berg auch nicht. 146.000 Menschen wohnen in dem Stadtteil. Es gibt zwar in der Gegend einen klaren Überhang bei den 25- bis 45-Jährigen. Aber kaum bei den Kindern. 15.000 Menschen unter zehn Jahren leben dort, zehn Prozent der Bevölkerung. Also etwas mehr als in ganz Berlin, dort sind nur 8,6 Prozent der Bevölkerung unter zehn Jahre alt. Das ist noch keine Revolution. Selbstverständlich hat auch in Prenzlauer Berg die Mehrheit der 20- bis 40-Jährigen keine Kinder. "Was nach Babyboom aussieht, sind in Wirklichkeit nur viele junge Menschen, die ihrerseits aber vergleichsweise wenig Kinder kriegen", schreibt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in einer Analyse der Situation.
Die kinderreichste Region Deutschlands ist übrigens das niedersächsische Cloppenburg. Das hat angeblich etwas mit dem hohen Anteil der Deutschrussen in dieser Gegend zu tun, aber die erklären das Phänomen auch nicht ganz: In dem Landkreis, in dem zufällig etwa genauso viele Menschen leben wie in Prenzlauer Berg, sind 18.000 Menschen unter zehn Jahren alt, also 3000 mehr. Und das, obwohl in Cloppenburg viel weniger Frauen im gebärfähigen Alter (15 bis 44) leben, nämlich 30.000, also gut 10.000 weniger! Cloppenburgerinnen bekommen viel, viel mehr Kinder. Seltsamerweise haben wir aber noch nie einen Artikel über das krasse Cloppenburg mit seinen fiesen Kinderwagenarmeen in der "Süddeutschen" gelesen.
Das liegt wahrscheinlich daran, dass in Cloppenburg traditionell gelebt wird. Papa geht zur Arbeit, Mama bleibt zu Hause. Die bürgerliche Welt ist in Ordnung. In Prenzlauer Berg ist sie das nicht. Dort zeigen sich Eltern und wollen Teil der Stadtkultur werden. Der Helmholtzplatz etwa, das Zentrum der Gegend, ist ein Riesenareal für Kinder, mit einem Café mit Innensandkiste und einem großen Spielplatz mit Holzschiff. Es gibt hier auch Väter, die mit ihren Kindern kommen. Sie tragen die gleichen Klamotten, mit denen sie abends noch manchmal Szeneclubs aufsuchen. In dieser Gegend wird neues Elternsein ausprobiert. Das hassen die Journalisten offenbar.
Sie nennen es "Kinderfaschismus"
Denn Medien, Blogger und Stammtische stürzen sich weiter fröhlich auf das Thema des angeblich extremen Kinderreichtums in Prenzlauer Berg. Was sollte dahinter anderes stecken als Kinderfeindlichkeit? Und was sollte das anderes sein als reaktionär?
Auf dem Helmholtzplatz treffen wir Lisa Harmann. Sie ist Mutter dreier Kinder, sie lebt hier, und sie ist die wichtigste Bloggerin der neuen Elternszene. Wer ihr Blog Nusenblaten besucht, sieht dort als Signum als Erstes das große Piratenschiff, das hier auf dem "Helmi" steht und in dem auch ihre Kinder immer verschwinden. Was Harmann gemeinsam mit ihrem Mann verfasst, ist mal lustig, mal belanglos, immer aber ein Ringen um ein moderneres Familienleben. "In 20 Jahren wird man dies alles hier das Wunder von Prenzlauer Berg nennen", sagt sie. "Wir entwickeln gerade zum ersten Mal ein Selbstbewusstsein mit Kindern. Unsere Eltern noch haben sich immer eher versteckt."
In Spanien werde man überschwänglich begrüßt, auch Fremde nähmen die Kinder auf den Arm, schenkten ihnen etwas Kleines und freuten sich an ihnen. Hier bei uns heiße es immer nur: Die unerzogenen Blagen stören! Nur Prenzlauer Berg nimmt sie anders wahr: "Wenn ich hier mit dem Zwillingswagen durch die Straße schiebe, die Große noch dahinter auf dem Kiddy-Board, und Einkaufstüten und Kinderfahrräder an den Seiten des Zwillingswagens hängen habe, stört das niemanden. In jeder anderen Stadt hätte irgendwer was Abfälliges gesagt."
Solche Ängste kennen viele Eltern. Offenbar finden sie sich derzeit gern zusammen, ziehen in Gegenden, die sie für kinderfreundlich halten und in denen sie ihresgleichen finden wollen. Es wäre eine seltsame Idee, ein Chinatown für Eltern zu gründen, und ist deswegen ein Glück, dass das gar nicht funktioniert hat. Interessant ist die Idee aber als Phänomen. Vielleicht fühlen Eltern sich zurzeit in Deutschland alleingelassen - und raufen sich daher zusammen.
Der Regisseur Nanni Moretti hat übrigens mal erklärt, warum er die erwähnte Szene mit den Kindern, die ihren Eltern auf der Nase herumtanzen, gedreht habe: "Meine Generation hat sich lange gegen das Kinderkriegen gewehrt", sagte er, "und dann haben alle irgendwann nur ein Kind bekommen, mit dem sie dann übervorsichtig sind." Wenn's wenig Kinder gibt, wird's seltsam. So wie in Deutschland jetzt.
Der Text ist ein Auszug aus: "Babybeschiss. Wie Eltern über den Wickeltisch gezogen werden". Informationen finden Sie in der linken Spalte.