Pandemie und Nahostkonflikt verschärfen Lage Meldestellen erfassen in nur einem Jahr 2700 Fälle von Antisemitismus

Sieben Vorfälle pro Tag, jeden sechsten Tag ein judenfeindlicher Angriff: Das Netz der Meldestellen für Antisemitismus, RIAS, zeigt sich angesichts seines jüngsten Berichts alarmiert.
Rias-Vorstand Steinitz: »Das Dunkelfeld ist nach wie vor groß«

Rias-Vorstand Steinitz: »Das Dunkelfeld ist nach wie vor groß«

Foto: Carsten Koall / dpa

Ein Netzwerk von Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) registriert seit 2018 antijüdische Vorfälle. In ihrem aktuellen Bericht zeichnet die Organisation ein erschreckendes Bild von Judenhass in Deutschland – inklusive Beschimpfungen, Schmierereien und Angriffe.

Insgesamt 2738 antisemitische Vorfälle haben die Rias-Meldestellen 2021 erfasst. Darunter waren 63 Angriffe und sechs Fälle extremer Gewalt. Den Jahresbericht  präsentierte Rias-Vorstand Benjamin Steinitz in Berlin. Wichtige Treiber aus seiner Sicht: die Coronapandemie mit ihren antijüdischen Verschwörungserzählungen und der Nahostkonflikt mit antisemitischer Israel-Kritik.

»Das Dunkelfeld antisemitischer Vorfälle und Straftaten in Deutschland ist nach wie vor groß«, sagte Steinitz laut einer Mitteilung. »Unser Bericht zeigt, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland nach wie vor unter dem Vorwand, Kritik an Israel äußern zu wollen, angegriffen und angefeindet werden.«

Etwa die Hälfte aller erfassten Vorfälle – 54 Prozent – ließen sich laut Rias keiner klaren Weltanschauung zuordnen. Wo dies möglich war, waren Rechtsextremisten mit 17 Prozent die größte Gruppe. Insgesamt wurden 964 Täterinnen und Täter registriert.

Schuss auf Gemeindehaus, »HH« auf Klingelschild geschmiert

Betroffene können sich an acht Meldestellen des Rias-Netzwerks wenden. Anders als in der Kriminalstatistik werden so auch nicht strafbare antisemitische Vorfälle erfasst. 2020 hatte Rias noch 1909 solcher Fälle registriert – aber mit weniger Meldestellen, weshalb die Zahlen nur bedingt miteinander vergleichbar sind. Dass die Zahl nun auf die Dreitausendermarke zusteuere, sei erschreckend, sagte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein. Aber »gleichzeitig ist jeder der gemeldeten Vorfälle auch ein Schritt zur Verkleinerung des Dunkelfelds«.

Zu Fällen »extremer Gewalt« zählt Rias den Angriff auf einen jüdischen Teilnehmer einer Mahnwache für Israel in Hamburg und einen Schuss auf ein jüdisches Gemeindehaus in Berlin. Statistisch gab es laut Rias an jedem sechsten Tag einen antisemitischen Angriff. Antisemitische Vorfälle insgesamt gab es jedoch rechnerisch mehr als sieben pro Tag.

Zum Beispiel wurde die Tür eines jüdischen Mieters in Berlin mit Eiern beworfen, wie es im Jahresbericht heißt. Auf das Klingelschild eines jüdischen Geschäfts wurde »HH« geschmiert – die von Rechtsextremisten genutzte Abkürzung für »Heil Hitler«. In einem Restaurant in Heidelberg bedrohte ein Mann einen Gast mit Davidstern-Kette mit den Worten: »Ich bring dich um! Ich bin Hitler.«

2021 seien insgesamt 964 Einzelpersonen von antisemitischen Vorfällen unmittelbar betroffen gewesen. Antisemitismus sei Alltag – ein Grundrauschen, wie es Marina Chernivsky von der Beratungsstelle Ofek für Opfer antisemitischer Gewalt und Diskriminierung nannte.

Doch sieht Rias auch »Gelegenheitsstrukturen« – Anlässe, bei denen es immer wieder zu antisemitischen Vorfällen kommt. »Fast ein Drittel aller Rias bekannt gewordenen antisemitischen Vorfälle standen im Zusammenhang mit der Coronapandemie«, hieß es. Dazu zählen Schmierereien, Verschwörungserzählungen zu angeblichen jüdischen Drahtziehern oder Profiteuren, aber auch Relativierungen der Shoa – etwa, wenn Impfgegner gelbe Sterne trugen.

Zweiter Anlass war die Zuspitzung des israelisch-palästinensischen Konflikts im Mai 2021. Insgesamt ordnete Rias 26 Prozent der erfassten antisemitischen Vorfälle dem israelbezogenen Antisemitismus zu, mit 723 Fällen etwa doppelt so viel wie 2020.

apr/dpa
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