Auschwitz-Überlebender Yehuda Bacon "Ich wollte wissen, wie alles funktioniert"

Auschwitz-Überlebender Bacon: "Menschen gesehen, die zu Heiligen wurden"
Foto: SPIEGEL ONLINEAls die Deutschen am 14. März 1939 im tschechischen Ostrava einmarschieren, schleicht sich Yehuda Bacon zu einem Panzerwagen und klopft wild darauf herum. Man hat ihm erzählt, dass die mächtigen Fahrzeuge der Nazis in Wahrheit aus Pappe seien. Mit seinen Freunden läuft der Neunjährige kurz darauf zur Post, um für die geliebte Briefmarkensammlung einen Stempel zu bekommen, auf dem ab jetzt steht: "Die Stadt des schwarzen Diamanten dankt dem Führer für ihre Befreiung."
Ab jetzt ist nichts mehr wie früher. "Wir mussten sehr wachsam sein", sagt Yehuda. "Leute verschwanden einfach von der Straße." Die SS gab sich Mühe, ihre Verbrechen zu verschleiern: "Die Angehörigen bekamen ein Telegramm von den deutschen Behörden. Darin stand, dass der Vermisste an einem Herzinfarkt gestorben sei." Die Asche könne auf Antrag in einer Urne überstellt werden. Yehuda sollte genau diese Urnen sehr bald mit eigenen Augen sehen - im Krematorium von Auschwitz.
Als er im September 1942 nach Theresienstadt deportiert wird, versteckt er seine Briefmarkensammlung auf einem Dachboden der "Magdeburger Kaserne", wo er untergebracht ist. Viele Menschen sterben, am Ende werden es mehr als 33.000 Tote sein. Yehudas Schwester Hana ist noch bei ihm, auch die Mutter Ethel und der Vater Isidor. Der 13-Jährige träumt von zu Hause.
Als er ein Jahr später nach Auschwitz kommt, träumt er sich zurück nach Theresienstadt. Drei Tage ist die Familie im Viehwaggon unterwegs, um sie herum sterben Säuglinge und Alte, dann sieht Yehuda unter gleißendem Flutlicht erstmals das Vernichtungslager: "Die Männer, die ich sah, trugen alle Krücken, ich dachte, wir sind in einem Lazarett gelandet." Die Krücken, das verstand er später, waren Schlagstöcke, die vermeintlich Verwundeten KZ-Aufseher.
Ein neugieriges Kind
Der Transport mit den tschechischen Juden wird ohne die übliche Selektion geschlossen in das sogenannte Familienlager gebracht. 500 Menschen drängen sich in einem Block, manchmal sieben in einer Koje.
Für alle gilt "Sonderbehandlung mit sechsmonatiger Quarantäne" - ihre Vergasung ist für ein halbes Jahr ausgesetzt. Der Grund: Die Nazis feilen im "Vorzeige-Ghetto" Theresienstadt an einer zynischen Komödie, die Kontrolleuren des Internationalen Roten Kreuzes vorgaukeln soll, dass in deutschen KZ fröhliche Juden interniert seien, die nach der Arbeit in Cafés sitzen und Fußball spielen. Die SS fürchtet Rückfragen und will im Notfall einige lebende Deportierte präsentieren können.
Yehuda nutzt die Zeit: "Ich war ein neugieriges Kind", sagt er. "Ich habe mir alles ganz genau angeschaut." Wenn der Kapo gute Laune hatte, habe er die Kinder schon mal zum Aufwärmen in die Gaskammern gelassen. "Viele haben sich nicht getraut. Aber ich wollte wissen, wie alles funktioniert."
So bekam er Einblicke in einen sonst hermetisch abgeschotteten Bereich von Auschwitz-Birkenau. Die Duschköpfe, so stellte der Junge fest, hatten keine Löcher. Die Mitglieder des Sonderkommandos erklärten ihm, wie sie mit Totgeweihten redeten, die keine Ahnung hatten, was ihnen bevorstand. Und wie mit denen, die Bescheid wussten. Yehuda fuhr mit dem Leichenlift zu den Brennöfen, sah die Kisten mit Goldzähnen im Krematorium. Er lernte, wo das Zyklon B hineingegeben wurde. Erstaunt fragte er, für wie viele Menschen denn die immensen Holzvorräte noch reichen sollten, die sich stapelten. "Etwa 17 Millionen", sagte der Mann im Krematorium. "Aber so viele Juden gibt es doch gar nicht mehr", wandte Yehuda ein. "Du hast recht", antwortete der. "Als Nächstes kommen die Slawen dran."
Yehuda sah genau hin, so genau, dass seine detaillierten Zeichnungen aus Auschwitz beim Eichmann-Prozess 1961 als Beweismittel zugelassen wurden, weil sie so exakt mit den Plänen der SS übereinstimmten.
Fredy Hirsch und der Kinderblock
Yehudas Schwester und die Mutter werden ins KZ Stutthof nahe Danzig verlegt, wo sie nur zwei Wochen vor der Befreiung an Fleckfieber und Hunger sterben. Yehuda und sein Vater treten am 10. Juli 1944 zur Selektion an. Ein SS-Mann fordert Jungen zwischen 12 und 16 auf, sich für einen Sondereinsatz zu melden. "Bleib bei mir, lass uns gemeinsam ins Gas gehen", bittet der Vater. "Es war fürchterlich, wir redeten hin und her", erinnert sich Yehuda. Dann hätten sie beschlossen, dass der Sohn es versuchen solle. "Ich wusste genau, was mit meinem Vater passiert."
Sein Überleben verdankt Bacon der Tatsache, dass er ins Männerlager (B II d) verlegt wird. Hier müssen die Kinder nicht zum Appell antreten, die Kälte, die Schläge und die Schüsse bleiben ihnen erspart. Mit Hochachtung spricht er von Fredy Hirsch, einem Juden aus Aachen, der sich furchtlos bei der SS dafür eingesetzt hatte, einen Kinderblock im Familienlager aufzubauen, "damit die Kleinen ihnen nicht vor den Füßen rumkrabbeln".
Hirsch habe peinlich darauf geachtet, dass die Kinder sich sauber hielten. "Er machte jeden Tag eine Lauskontrolle, und wir mussten uns das Gesicht mit Schnee waschen - mit einem Taschentuch für 20 Kinder." Dass diese Hygienemaßnahmen dem Überleben bei der Selektion dienten, habe er erst viel später verstanden, sagt Bacon. Hirsch soll an der Planung eines Aufstands beteiligt gewesen sein. Kurz bevor die ersten Kinder aus dem Block vergast wurden, nahm er sich das Leben. "Ich kannte den Mann, der seine Leiche in den Ofen geschoben hat. Er hat mir alles erzählt."
Unter den "Birkenau Boys" herrschte ein eigener, kindlicher Moralkodex. Eine Regel hieß: Man beklaut keine Frauen, niemals. Ein Mitglied ihrer Truppe habe dies trotzdem getan und sei daraufhin ausgeschlossen und mit Schweigen bestraft worden. "Das war so schrecklich für ihn, dass er versucht hat, seine Tat wiedergutzumachen: Er ging zu einem homosexuellen Kapo und bot ihm Sex für einen Laib Brot an", erinnert sich Bacon. "Was mit dem Brot geschah, weiß ich nicht mehr, aber die Sache war damit sozusagen gesühnt."
Niemand will deine Geschichte hören
Bacon überlebte Auschwitz, Mauthausen und zwei Todesmärsche. Heute ist er 84 Jahre alt und hat ein reiches, erfülltes Leben hinter sich. Er ging 1946 nach Palästina und lernte seine erste Lektion: Niemand will deine Geschichte hören. Er schrieb einen Brief an Verwandte, in dem er dezidiert die Höhe der Flammen im Krematorium II von Auschwitz beschrieb, außerdem, wie die Verwandten umkamen. Der Adressat erlitt einen Nervenzusammenbruch. "Ich hatte noch nicht gelernt, wie viel man den Leuten zumuten darf." Eine Mauer habe sich aufgetan, die Grenze zwischen "die" und "wir".
"Da habe ich begonnen zu zeichnen und mit Menschen zu sprechen, die dasselbe wie ich erlebt hatten." Bacon wurde Maler, umgab sich mit Philosophen und Schriftstellern, mit Zionisten, Linken oder Rechten, er war offen für jedes gute Gespräch. Er lernte Martin Buber und Paul Celan kennen. Er sah Adolf Eichmann, den er noch aus Theresienstadt kannte, 1961 im Prozess. "Ach", sagt er, "ich hatte keine großen Gefühle." Wenn man einen Menschen in eine Uniform stecke, steige ihm das zu Kopf. "Wenn man sie ihm wegnimmt, dann ist er nackt, dann ist er ein Mensch."
Die Lehren aus Auschwitz
Was er in Auschwitz gelernt habe? "Ich weiß jetzt, dass Bildung nur an der Oberfläche eine Rolle spielt. Wirklich bestimmend ist der Kern des Menschen. Ich habe Menschen gesehen, die in den kritischsten Momenten des Lebens zu Heiligen wurden und für andere ins Gas gingen. Und ich habe hochgebildete Professoren getroffen, die sich benommen haben wie Schweine."
Ob er nie wütend gewesen sei? "Nein", sagt Bacon und lächelt. "Ich wollte immer nur wissen, woher das Böse kommt."
Und haben die Deutschen mehr Talent zum Bösesein als andere?
"Nein. Ich habe verstanden, dass die Gefahr des Bösen in jedem lauert." Man müsse kämpfen, um gut zu sein. "Wer je einen wahrhaft guten Menschen erlebt hat, jemanden, der selbstlos gibt und einfach da ist, der bekommt eine andere Perspektive, und das Leben ergibt einen Sinn."