
Verachtung von Mitmenschen Hass, für den es keine Worte gibt

Schließen Sie kurz die Augen und stellen Sie sich einen Ausländer vor. Wen sehen Sie? Vielleicht eine französische Austauschstudentin? Einen polnischen Grundschullehrer? Einen Hipster aus New York?
Laut einer repräsentativen Studie der Universität Leipzig vertritt fast jeder dritte Deutsche ausländerfeindliche Positionen, also wahrscheinlich auch Menschen in Ihrem Bekanntenkreis. Wie erklären Sie sich diesen Hass gegen Franzosen, Polen, Amerikaner?
Schon klar, es geht um andere Ausländer. Wer zum Beispiel schwarz oder arabisch aussieht, das steht nicht erst seit dieser Studie fest, der muss in Deutschland mit Anfeindungen rechnen - selbst dann, wenn sie oder er seit Langem einen deutschen Pass hat.
Genau genommen geht es gar nicht um Ausländer; die Staatsangehörigkeit spielt eine höchstens untergeordnete Rolle. Im vergangenen Jahr etwa waren die meisten Ausländer, die nach Deutschland kamen, Polen - die aber spielen in der Einwanderungsdebatte keine Rolle.
Es gibt also, zugespitzt formuliert, keine grassierende Ausländerfeindlichkeit in Deutschland - aber durchaus ein Phänomen, das landläufig (und eben auch von renommierten Forschern) so benannt wird. Das mag nach einem Pseudoproblem aus dem Elfenbeinturm klingen, ist es aber nicht: Wie soll eine Gesellschaft ein erwiesenermaßen großes Problem angehen, ohne darüber vernünftig reden zu können, weil die passenden Wörter fehlen?
"Wir müssen die Vorurteile benennen"
Für ihre alle zwei Jahre erscheinende Studie wollten die Leipziger Forscher die Ansichten der Befragten ermitteln. Dafür sollten die Teilnehmer etwa angeben, wie sehr sie folgender Aussage zustimmen: "Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet."
"Überfremdung" ist ein Kampfbegriff der rechten Szene, und warum hantieren Wissenschaftler überhaupt mit einem so uneindeutigen Wort wie "Ausländer"? "Das ist ein Reizwort", sagt Studienleiter Oliver Decker, "auf das die Leute reagieren." Nur so lasse sich die Verbreitung von Ressentiments erheben: "Wir müssen die Vorurteile benennen und abfragen, sonst können wir sie nicht messen."
Doch gegen wen richten sich die augenscheinlich massiven Vorbehalte?
"Wir haben nicht erhoben, an wen die Leute bei 'Ausländern' denken", sagt Decker. "Aber wir wissen, um welche Form von Ressentiment es sich handelt. Dessen Verbreitung und Ursachen interessieren uns." Nun wissen die Forscher also, wie groß die Vorbehalte sind und wo sie besonders groß ausfallen - in Ostdeutschland beispielsweise, wo übrigens kaum Ausländer leben. Aber die Forscher wissen nicht, wer genau die abgelehnten Menschen sind, diese "Ausländer".

Pegida-Kundgebung in Dresden (im Oktober)
Foto: Jens Meyer/ APDen Wissenschaftlern kann man das nicht zum Vorwurf machen, ihre Studie hat das Ziel erreicht: herauszufinden, wie groß die Ressentiments sind. Die Sache deutet auf ein größeres Problem hin - eines, das sich seit den Erfolgen rechtspopulistischer Bewegungen verschärft hat und die Gesellschaft insgesamt betrifft: Wie sollen Probleme verhandelt und gelöst werden, wenn man sie nicht einmal richtig benennen kann?
Viele Medien, darunter auch SPIEGEL ONLINE, berichteten über die Leipziger Studie, meist standen dabei die Ressentiments gegenüber "Ausländern" im Mittelpunkt. Schon möglich, dass in Aachen viele Leser dabei an belgische Zuwanderer dachten und in Flensburger Kneipen eine Debatte über kriminelle Dänen ausbrach. Wahrscheinlicher ist aber, dass viele Deutsche ein Problem mit einigen Religionsgemeinschaften oder Menschen bestimmter Hautfarbe haben.
Was die Leipziger Extremismusforscher untersucht haben, ist also die weitverbreitete Ablehnung von Menschen, die hierzulande häufig als "fremd" wahrgenommen werden. Man könnte also von "Fremdenfeindlichkeit" oder "Fremdenhass" sprechen - gängige Begriffe, die übrigens auch der Autor dieses Artikels in eigenen Texten verwendet hat.
Das Problem ist nur: Wer von Fremdenhass spricht, übernimmt und akzeptiert die Perspektive der Fremdenhasser; der Begriff stellt nicht infrage, was "eigen" und was "fremd" ist und ob diese Einteilung in Gruppen auch nur ansatzweise logisch ist.
Andersaussehende, Anderssprechende, Andersbetende
Manch erzkatholischem Senior mögen Lutheraner fremd sein, viele Sozialhilfeempfänger fremdeln womöglich mit Millionären. Es mag viele plausible Gründe geben, andere Menschen oder Gruppen für "fremd" zu halten - aber mit dem, was "Fremdenfeindlichkeit" offenbar meint, hat das nur wenig zu tun.
Auch deshalb ist es problematisch, von "Fremdenangst" und "Ausländerfeindlichkeit" zu sprechen. Mit der unkritischen Übernahme dieser Begriffe lässt man Rassisten, Islamhassern und Antisemiten ein Scheinargument durchgehen. Woran sie sich wirklich stören, spiegelt sich in der Idee einer "Überfremdung" wider: Andersaussehende, Anderssprechende, Andersbetende.
Warum sollte eine offene Gesellschaft nicht offen über irrationale und fragwürdige Ängste sprechen, mit präzisen Vokabeln? Die Probleme heißen Islamophobie, Antisemitismus, Rassismus, Antiziganismus. Das sind vielleicht nicht gerade schöne Begriffe. Aber gesellschaftliche Debatten sind ja auch kein Schönheitswettbewerb.