Protestierende Frauen in Belarus "Lukaschenko muss spüren, dass die Welt gegen ihn ist"

Der Protest in Belarus wird von Frauen getragen. Sie fürchten weder die Schergen der Regierung Lukaschenko noch die Drohungen aus dem Kreml. Zwei Aktivistinnen berichten.
Regierungsgegnerinnen in Minsk (Foto vom 23. August)

Regierungsgegnerinnen in Minsk (Foto vom 23. August)

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Natalia Fedosenko / imago images/ITAR-TASS

Bei den Massenprotesten gegen den Autokraten Alexander Lukaschenko spielen belarussische Frauen eine herausragende Rolle. Zu Tausenden gehen sie auf die Straße. Sie stellen sich zwischen gewaltbereite Sicherheitskräfte und Demonstrierende, tricksen die gefürchteten Omon-Truppen aus und versuchen immer wieder, eine drohende Eskalation zu verhindern. Einige tragen weiße Kleider und Blumen - doch mit harmlosem Hippieprotest hat das wenig zu tun.

Die Demonstrantinnen fordern Neuwahlen, die Strafverfolgung der exzessiven Polizeigewalt nach dem Wahlbetrug und die Freilassung inhaftierter Oppositioneller. Die derzeit prominenteste Figur des Widerstandes gegen Lukaschenko ist die im litauischen Exil weilende parteilose Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja. Sie übernahm politische Verantwortung, nachdem ihr Mann Sergej Tichanowski inhaftiert worden war.

Unterstützt wird sie von Frauen wie der Musikpädagogin Maria Kolesnikowa, die wie viele Aktivistinnen Kulturschaffende ist und in Stuttgart studiert hat. Auch die Managerin Veronika Tsepkalo, Frau des Ex-Diplomaten Valery Tsepkalo, dessen Präsidentschaftskandidatur die Regierung verhinderte, fordert demokratische Rechte ein.

Was sind die Stärken und Schwächen des weiblichen Protests in Belarus? DER SPIEGEL hat mit zwei Aktivistinnen gesprochen - der Dichterin Yulia Tsimafeyeva und der Feministin Nasta Zakharevich.

Foto: Yulya Tsimafeyeva

Yulia Tsimafeyeva, Jahrgang 1982, ist Dichterin und Übersetzerin aus Minsk. Zuletzt auf Deutsch erschienen ist ihr Gedichtband "Zirkus".

"Wir Frauen gehen auch heute für Frieden und Unabhängigkeit auf die Straße. Es ist Präsident Lukaschenkos Geburtstag - wir hoffen, dass die Sicherheitskräfte dies nicht zum Anlass nehmen, noch rigoroser gegen uns vorzugehen. Die brutalen Übergriffe kurz nach der gefälschten Wahl am 9. August waren ein Schock. Wir sind in Belarus an Schlagstöcke und Festnahmen gewöhnt – Folter und vertuschte Morde hingegen waren ein Novum. Auch Frauen wurden zu Beginn der Proteste vergewaltigt und misshandelt.

Wir fürchten um unser Leben, dass wir eingesperrt und verprügelt werden. Belarus ist im Moment ein rechtsfreier Raum. Sie können dich töten und niemand wird dafür je zur Verantwortung gezogen werden. Die Regierung handelt nach ihren eigenen, für uns schwer nachvollziehbaren Regeln – der Logik der Psychopathen.

Das Dreiergespann Tichanowskaja, Kolesnikowa und Tsepkalo ist zum Symbol der Bewegung geworden. Diese drei Frauen verkörpern all das, was das System Lukaschenko nicht ist, sie sind die Antagonistinnen des Regimes. Die Regierung ist autokratisch, militaristisch, gewalttätig, patriarchalisch. Der Präsident beleidigt sein Volk, nennt die Demonstranten Drogenabhängige, Nutten und Nichtsnutze.

Die Regierung ist autokratisch, militaristisch, gewalttätig, patriarchalisch

Dichterin Yulia Tsimafeyeva über das System Lukaschenko

Die Aktivistinnen hingegen glauben an das Volk, sie loben den Mut und das Engagement der Menschen, machen Hoffnung und schaffen dadurch ein ganz neues Selbstbewusstsein. Die friedlich demonstrierenden Frauen in Weiß und mit Blumen in der Hand haben sich tief in das Unterbewusstsein der Menschen eingegraben, das hatte fast etwas Mythologisches.

Durch die Proteste setzten sich die Leute mit nationaler Identität auseinander, aber eben auch mit ihrer persönlichen, beruflichen oder geschlechtlichen. Es ist, als ob ein Kind zum ersten Mal vor dem Spiegel steht und sich selbst erkennt.

Dass die Opposition keine zentrale Führungsfigur hat, hat auch Vorteile: Wo kein Kopf ist, kann man ihn auch nicht abschlagen. Es herrscht ein hohes Niveau der Selbstorganisation. Viele Demonstrationen, auch große, finden abseits des Minsker Zentrums statt, in Außenbezirken und kleinen Orten. Diese Dezentralisierung macht den Sicherheitskräften zu schaffen.

Wir sind davon überzeugt, dass wir das Richtige tun, dass die Wahrheit auf unserer Seite ist. Das gibt uns Kraft. Aber es sieht so aus, als müssten wir lange und beharrlich weiterkämpfen. Wenn wir jetzt zurückweichen oder aufgeben, wird das gesamte Land zum Gefängnis. Die Menschen wissen das, deswegen machen sie weiter. Die Mutigen demonstrieren, wer Geld hat, spendet und alle malen Plakate.

Die Bevölkerung von Belarus ist derzeit extrem politisiert. Eine militärische Intervention, etwa vonseiten Russlands, könnte unser Land in einen Partisanenkrieg treiben, damit haben wir im Zweiten Weltkrieg reichlich Erfahrungen gesammelt. Im Moment gibt es aber keine antirussische Stimmung, es ist die weißrussische Identität, die uns umtreibt. Sollte Wladimir Putin versuchen, sich einzumischen, könnte sich das schnell ändern."

Nasta Zakharevich (Mitte links) bei einer Demonstration

Nasta Zakharevich (Mitte links) bei einer Demonstration

Foto: Jewgeni Otzezki

Nasta Zakharevich, 27, Bloggerin und Feministin aus Minsk

"Mein Eindruck von den jüngsten Demonstrationen ist: Die Frauen gehen sehr klug, rational und flexibel mit der Aggression der Sicherheitskräfte um. Sie haben die Fähigkeit, blitzschnell von friedlichem Blumenprotest zu aktiver Verteidigung überzugehen.

Viele Aktivistinnen stellen sich zwischen ihre Brüder, Väter oder Partner und die Ordnungsmacht, um die Männer vor Misshandlungen und Festnahmen zu schützen. Sie diskutieren mit maskierten Omon-Kräften, manchmal sogar erfolgreich.

Die Sicherheitskräfte schrecken teilweise davor zurück, Frauen hart anzugehen. Wir nutzen also den Chauvinismus der Regierung zu unserem Vorteil. In dieser Übergangszeit müssen wir mit Stereotypen arbeiten. Als Feministin würde ich mir das anders wünschen, aber es geht gerade nicht anders.

Gerade ältere Frauen erweisen sich derzeit als besonders furchtlos in der Auseinandersetzung mit dem Staatsapparat. Viele von ihnen glaubten ihre vermissten Kinder tot. Zum Glück sind alle 82 Vermissten inzwischen wieder aufgetaucht. Laut unseren Informationen kamen mutmaßlich fünf Menschen durch staatliche Übergriffe zu Tode – den Behörden zufolge begingen einige Suizid oder starben eines natürlichen Todes. Keiner will diese Lügen, den Wahlbetrug, die Gesetzlosigkeit, Folter und Schüsse weiter hinnehmen.

Swetlana Tichanowskaja ist für viele Frauen ein Vorbild. Sie ist aber auch ein Produkt der belarussischen Sozialisierung, des Patriarchats. Sie hat kein Interesse an der Macht, übernimmt aber Verantwortung, weil es nötig ist. Sie ist immens an ihrer Aufgabe gewachsen, dennoch glaube ich, dass sie sie tatsächlich wie angekündigt abgeben würde, sollte es Neuwahlen geben und ihr Mann aus dem Gefängnis kommen. Sergej Tichanowski ist selbst ein ziemlicher Macho, seine Unterstützer sind Arbeiter, einfache Leute, viele kommen aus ländlichen Gebieten, wo Tradition eine Rolle spielt.

Meine größte Angst ist es, dass die internationale Gemeinschaft das Interesse an uns verliert und uns im Stich lässt. Die westlichen Demokratien sollten dringend weitere Sanktionen gegen Regierungstreue verhängen, die im Zusammenhang mit den Protesten Straftaten begangen haben. Lukaschenko muss spüren, dass die Welt gegen ihn ist. Derzeit versucht er, uns zu isolieren, er lässt Journalisten festnehmen und ausweisen – aber wir leben im 21. Jahrhundert, fast jeder hat ein Handy, mit dem er Übergriffe dokumentieren kann.

Die Regierung hat sich viele Versäumnisse zuschulden kommen lassen. Seit Jahren werden Wahlen manipuliert - aber dieses Mal war der Betrug einfach zu dreist und offensichtlich. Auch der zynische Umgang Lukaschenkos mit der Coronakrise hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Die Menschen haben gemerkt, dass er sich nicht um ihre Gesundheit schert, dass sie ihm vollkommen egal sind. Ich habe zwei Verwandte durch Covid-19 verloren. In ihren Totenscheinen stand als Todesursache: Herzinsuffizienz."

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