
Flüchtlingsproteste: Was wurde aus zwei Jahren Widerstand?
Berliner Flüchtlingsproteste Was wurde aus den Aktivisten vom Oranienplatz?
Der Oranienplatz ist leer, nichts deutet mehr darauf hin, dass hier eineinhalb Jahre lang Flüchtlinge campierten. Vom Oktober 2012 bis zum April 2014 protestierten sie dort gegen den Umgang mit Asylbewerbern: gegen die Unterbringung in Heimen, gegen Abschiebungen, das Arbeitsverbot und die Residenzpflicht - eine Regelung, die den Radius festlegt, in dem sich Asylsuchende aufhalten dürfen.
Ihr Protest war Teil einer Bewegung, die im Januar 2012 mit der Selbsttötung eines iranischen Asylbewerbers in Würzburg begonnen hatte. Dort ließen sich Demonstranten die Lippen zunähen und traten in den Hungerstreik. Bald folgten Aktionen in 14 deutschen Städten. Am 8. September machten sich rund 50 Flüchtlinge auf den Marsch von Würzburg nach Berlin. Für die folgenden zwei Jahre wurde die Hauptstadt zum beachteten Mittelpunkt der Proteste.
Die Aktionen bewegten Menschen, nicht aber die Politik. Als Berlins Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) im Frühjahr 2014 bessere Unterkünfte und "wohlwollende Prüfung" von Anträgen anbot, schöpften einige der Protestierenden Hoffnung auf ein normales Leben. Andere befürchteten, erneut in überfüllte Mehrbettzimmer gesperrt zu werden, weiter keine Arbeitserlaubnis zu bekommen und auf die wahrscheinliche Abschiebung warten zu müssen. Die Bewegung war gespalten worden.
Als dann der Berliner Senat die Räumung veranlasste, beteiligten sich einige der Flüchtlinge am Abriss. Napuli Langa aber stieg mit zwei anderen Aktivisten auf einen Baum und weigerte sich vier Tage lang, wieder herabzukommen. Die Platane wurde zum letzten Refugium des Protests am Oranienplatz. Dann verschwand sie aus den Schlagzeilen. Doch was wurde aus den Aktivisten?

April 2014: Letzte Überreste des Camps am Oranienplatz werden weggeschafft
Foto: Paul Zinken/ dpaNapuli: "Wir werden nicht leiser!"
Ein Jahr später läuft Napuli durch Kreuzberg. "Die Politiker dachten, wenn die Zelte weg sind, hätten sie ihre Ruhe. Falsch! Der Oranienplatz, das ist eine Bewegung - und die lässt sich nicht einfach wegräumen." Napuli war eine der Wortführerinnen am Oranienplatz und für die Refugee-Bewegung ist sie es weiterhin. Sie ist gefragt, vor Kurzem sprach sie in Gießen, in Mühlheim, Bremen und Hamburg.
Fast alle Anträge jener Flüchtlinge, die sich vor einem Jahr vom Senat registrieren ließen, wurden abgelehnt. Sie sollen in die Lager in den Bundesländern zurückzukehren, in denen ihre Asylverfahren laufen, oder in das EU-Land, über das sie nach Europa eingereist sind. In den meisten Fällen ist das Italien, wo Obdachlosigkeit und Elend auf sie warten. Deshalb haben sich die meisten wieder der Bewegung angeschlossen, einige wurden vorübergehend von der Kirche aufgenommen.
"Wir kämpfen wieder vereint", sagt Napuli. Im Januar hat sie geheiratet. Die anschließende Feier fand im "Haus der 28 Türen" statt, dem Kunstpavillon auf dem Oranienplatz, der seit der Räumung des Camps als Treffpunkt der Flüchtlingsaktivisten diente. Napulis Nachname ist jetzt Görlich, doch an ihrem Kampfgeist hat sich nichts geändert.
Zurzeit ist sie auf einer Bustour durch Deutschland: Die Refugee-Aktivisten suchen weiteren Kontakt mit Flüchtlingsorganisationen im ganzen Land, mit antirassistischen Gruppen und den "Refugee Welcome"-Initiativen, die sich in den letzten Jahren in Deutschland gebildet haben.
Oft als Folge des Protests - denn erst nachdem Napuli und ihre Mitstreiter anfingen, Straßen, Plätze, Ämter und Kirchen zu besetzen, nahmen große Teile der Gesellschaft überhaupt zur Kenntnis, wie menschenverachtend die Bedingungen sind, unter denen Asylbewerber in Deutschland leben müssen. "Wir haben das Lagersystem geschwächt, indem wir es nicht mehr geduldet haben", sagt Napuli.
Gegen sie war, wie gegen viele andere vom Oranienplatz, Klage erhoben worden - sie hatte die Residenzpflicht verletzt. Gerade erst hat sie das Verfahren gewonnen. Die Residenzpflicht sowie die Gutscheinsysteme werden von immer mehr Bundesländern abgeschafft, die Unterbringung in den Lagern wird erstmals hinterfragt. Es sind erste, kleine Erfolge.
Auch auf der aktuellen Bustour besuchen die Berliner Aktivisten Flüchtlingsheime. Sie nehmen aber keine Asylbewerber mit, sondern diskutieren vor Ort und versuchen, das Netzwerk zu erweitern. "Oranienplatz ist überall", sagt Napuli.
Turgay Ulu: "Deutschland kriminalisiert politische Flüchtlinge"
Auf dem Oranienplatz steht Turgay Ulu an einem anderen Tag im April. Aus dem grauen Himmel tröpfelt es leicht, und man weiß nicht, ob es Turgays Bart ist, der jedes Lächeln verbirgt, oder ob es ihm einfach vergangen ist.
Der Protest hat für viele der Flüchtlinge zwei Ebenen: die des individuell erlittenen Unrechts, das zur Flucht führte; und die gemeinsam erlittene Ungerechtigkeit, als Hilfesuchender von der Gesellschaft ausgeschlossenen zu werden. "Wir haben unsere Zelte in den Zentren errichtet, weil wir die Isolation nicht mehr ertrugen", sagt er.
Turgay war von Anfang an dabei. 2012 hatte er in Würzburg mitdemonstriert, gehörte zu den Organisatoren des 600-Kilometer-Marsches zum Berliner Oranienplatz. Als der geräumt wurde, trat Turgay mit anderen Aktivisten in einen mehrtägigen Hungerstreik.

Turgay (2.v.l.) und andere Aktivisten im April 2014 im Hungerstreik
Foto: Paul Zinken/ dpaDamit hat er Erfahrung. In der Türkei war er als 23-jähriger Student und Journalist festgenommen worden - er selbst glaubt, wegen seiner kommunistischen Texte. Die Vorwürfe gegen ihn waren inkonsistent und wechselten mehrfach. Er wurde gefoltert, sagt er, und Zeugen bestätigten das. Am Ende wurde er wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu lebenslanger Haft verurteilt, obwohl ihn Zeugen der Polizei entlasteten und sogar die Staatsanwaltschaft zeitweilig seine Freilassung empfahl. 15 Jahre saß er hinter Gittern.
Sein Fall alarmierte Amnesty International , Ulu kam frei. 2011 floh er über Griechenland nach Deutschland und beantragte Asyl als politisch Verfolgter. Der Antrag wurde abgelehnt, die deutschen Behörden schlossen sich der türkischen Sichtweise an.
"Politische Flüchtlinge passen dem deutschen Staat nicht", glaubt Ulu. "Also macht er sie zu Kriminellen. Die muss er nicht dauerhaft aufnehmen." Turgay klagt zurzeit gegen seinen Asylbescheid, das Urteil soll in Kürze erfolgen.
Einfacher wird die Lage der Flüchtlinge in Deutschland nicht: Ein gerade geplantes Gesetz sieht eine Bleiberechtsregelung für einen Teil der Asylbewerber vor, während die Mehrheit schneller als bisher mit Inhaftierung, Arbeitsverboten und Einreisesperren zu rechnen hat. Migrationsforscher kritisieren den Entwurf als Inhaftierungs- und Abschreckungsprogramm.
Seit Anfang April gehen Turgay und seine Mitstreiter dagegen täglich auf die Straße. Unterstützt werden sie von Gewerkschaften, von Schüler-Initiativen, von Wissenschaftlern und Künstlern.
Das nächste Projekt der Aktivisten ist es, die Schule in der Ohlauer Straße zu kaufen, aus der die Bezirksleitung von Kreuzberg die letzten 25 Geflüchteten hinauswerfen will. "Wir werden darin ein Kulturzentrum errichten", sagt Turgay. "Gemeinsam Theater und Musik machen, voneinander lernen." Dort wollen sie auch die Redaktion ihres gerade erstmals erschienenen Magazins "Movement" weiter ausbauen.
Unter seinem Bart lässt sich ein leichtes Lächeln erkennen. Auch Napuli strahlt, als sie von den Plänen für die Schule berichtet. "Das wird ein Pilotprojekt!" Beide wissen, dass noch viel zu tun ist - nicht nur im Kampf gegen Gesetze.
Die letzte Spur des Flüchtlingscamps auf dem Oranienplatz war die hölzerne Kunstinstallation "Haus der 28 Türen", in der Napuli ihre Hochzeit feierte. Am 31. März ging sie nach einem Brandanschlag in Flammen auf. Die Reste sind inzwischen entsorgt.

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