Beschneidungen in der Türkei Schnitt im Schritt

Erst kommt die Spritze, dann das Skalpell: Jedes Jahr macht die Beschneidung 1,5 Millionen junge Türken zum Mann und vollständigen Muslim. Ob sie wollen oder nicht - das Ritual ist Pflicht. Allein Istanbuls oberster Beschneider brachte es auf 115.000 Operationen in 40 Jahren.
Von Lisa Wandt

Istanbul - Ein dünner Junge im weißen Satin-Anzug taumelt zu einem roten Samtsofa, in dem drei Mini-Sultane versinken. Sie sind jetzt echte Muslime. Aus den Boxen dröhnt türkische Volksmusik. Ein dicker alter Mann mit rotgrauem Ziegenbart tanzt. Es ist Kemal Özkan, der Beschneider Istanbuls.

Menschen rücken an, füllen den Festsaal und stellen sich am Rand der Bühne in eine Warteschlange. Jeder will Özkan die Hand küssen, sich verbeugen und "Abi" (großer Bruder) sagen. Özkan steht da wie ein König, trägt getönte Brillengläser, ein goldenes Armband am Handgelenk und um den Hals ein Amulett mit Glitzersteinen. Seine Finger spielen mit einer Gebetskette.

Kemal Özkan ist der berühmteste Sünnetci (Beschneider) seiner Zeit. Als Istanbuler kennt man seinen Namen. Wer es sich leisten kann, geht zu dem Mann, der es in 40 Jahren auf 115.000 Beschneidungen und viel Geld gebracht hat. Zwischen 500 und 700 Euro kostet eine Behandlung. Der 74-jährige Meister hat Politiker beschnitten, Großunternehmer und Istanbuler Fußballstars, von Besiktas, Galatasaray und Fenerbahce. Die Fußballer lassen ihre Sprösslinge heute von Özkans Söhnen beschneiden.

Özkan führt in einen Nebenraum, eine kleine Ambulanz. Ein nackter Junge liegt auf einem OP-Tisch. Vater und Mutter stehen dabei, sie wollen sehen, wie aus ihrem Sohn ein Muslim wird. "Ali will sein Geschlecht nicht zeigen", sagt Özkan, er sei in einem problematischen Alter. Ali ist 13. Für schwierige Fälle gebe es diesen kleinen Raum, sagt Özkan und fasst dem Buben an den Penis. Die Tür steht offen, Menschen schauen herein. Özkan erklärt den Zuschauern, was Ali bevorsteht. Man sieht dem kleinen Jungen an, wie sehr er sich schämt, er weint, aber still.

Ali nimmt sein Schicksal wie ein Mann. Er weiß, dass er da jetzt durch muss. Wie jeder Türke.

"Mohammed kam ohne Vorhaut zur Welt"

Die islamische Tradition verlangt die Beschneidung. Sogar das türkische Kulturministerium empfiehlt den Eltern, auf die "wichtigste Tradition religiöser und sittlicher Gebräuche" nicht zu verzichten. Die Empfehlung besitze Gesetzeskraft. "Sünnet" (Beschneidung) kommt von "Sunna", der Lehre des Propheten Mohammed. Ein Muslim hat sich an der Sunna zu orientieren.

"Mohammed kam ohne oder mit einer besonders kurzen Vorhaut zur Welt", sagt Özkan und greift unter seinen Bauch. Dort vibriert es, sein Handy, "neue Aufträge", entschuldigt er sich. Im November reise er nach China. "An Ostern gibt es eine Massenbeschneidung in Bielefeld", sagt der Mann, der es an einem Tag schon auf 2300 Muslime gebracht hat, im Jahr 1985, mit 50 Helfern.

Nicht nur in der Türkei, sondern weltweit werden Jungen und Männer beschnitten. Bei Juden ist der religiöse Brauch auch ein Ritual der Sauberkeit. In den USA, dem einzigen Land, das es ohne religiöse Gründe zu einer beschnittenen Männermehrheit gebracht hat, ist Beschneidung seit 1870 gängige Praxis. Heute werden sechs von zehn Amerikanern beschnitten.

Beschneidung fördere die Potenz und verringere die Gefahr, an Geschlechtskrankheiten wie Aids zu erkranken, heißt es. Das lässt viele Türken glauben, sie könnten sich nicht anstecken. Zwar gibt es Studien, die beschnittenen Männern ein sechsmal niedrigeres HIV-Risiko versprechen - denn die Vorhaut sei mit Zellen gespickt, die dem Aids-Erreger besonders leicht anheim fallen. Allerdings warnte die Weltgesundheitsorganisation erst kürzlich wieder dringend davor, nur deshalb als Beschnittener auf Kondome zu verzichten.

Ein Kellner verteilt rote und gelbe Kopftücher. Nur wenige Frauen sind bedeckt, aber gleich wird ein Imam für den Penis von Özgür beten. Özgür, 5, sitzt auf der Bühne des Saales wie ein Demonstrationsobjekt für Mediziner, die Hose ist geöffnet. Ein Mann in Weiß fasst dem Jungen an seinen kleinen Penis, setzt eine Spritze in die Wurzel, zieht die Vorhaut über die Eichel und trennt sie mit einem elektrischen Skalpell ab. Özgür hält sich die Nase zu, es riecht nach verbrannter Haut.

Friseure beschneiden ohne Narkose

Die Zuschauer klatschen, kreischen und lassen sich von türkischer Popmusik in die Mitte des Saales treiben. Beschneidungen werden in der Türkei wie Hochzeiten gefeiert. Sie sagen etwas aus über den Status einer Familie. Özkan wankt auf die Tanzfläche und grölt ein türkisches Volkslied. Ein Clown setzt die beschnittenen Jungen in ein Karussell aus Fußballsitzen. Der Clown und die Fußbälle sollen die kleinen Patienten von der Operation ablenken. Özkan nennt das Psychologie. Er arbeite nur noch als Psychologe, sagt er.

Seit Mitte der achtziger Jahre heißt der religiöse Brauch auch sexuelle Verstümmelung. Selbsthilfegruppen in den USA und Europa kämpfen dafür, dass ihre Vorhaut wieder mehr ist als ein Fetzen Haut - nämlich ein empfindliches Organ mit 80 Metern Nerven. Eine freigelegte Eichel führe zu einem abgehärteten Penis, zu verminderter Gleitfähigkeit und letztlich zum Teilverlust des Spaßes am Sex, schreibt die US-Beschnittenenlobby Noric (National Organisation of Circumcision Resource Centers).

In der Türkei darf sich jeder Sünnetci nennen. In den ländlichen, ärmeren Regionen sind das oft Friseure oder Derwische. Sie beschneiden ohne Narkose. Das ist nicht nur schmerzhaft, sondern kann auch daneben gehen. Die türkische Frauenrechtlerin und Autorin Necla Kelek fordert in "Die verlorenen Söhne", Beschneidungen ohne medizinische Indikation zu verbieten. In Schweden ist das schon so.

In der Türkei wäre das allerdings nur schwer durchzusetzen. Dort werden jährlich 1,5 Millionen Jungen beschnitten, und nur die wenigsten können sich eine medizinische Behandlung leisten. Das türkische Gesundheitsministerium schickt schon Beamte als Beschneider durchs Land. "Arme Kinder und Waisen beschneide ich kostenlos", sagt Özkan. Oft übernehmen auch wohlhabende türkische Unternehmer die Beschneidungskosten von Waisenkindern: als Ausdruck der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen.

Am Ende des Tages sehen die kleinen Muslime noch immer benommen drein. Sie mussten etwas von sich abgeben - warum, verstehen sie nicht. Sie wissen nur, dass die Tradition jeden Türken trifft. Und ihr Penis unbeschnitten eine Schande wäre.

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