Betrunken am Steuer Käßmanns Sündenfall
Hamburg - Zwischen menschlich und allzu menschlich liegt manchmal nicht viel. Im Fall der EKD-Ratsvorsitzenden Margot Käßmann ist es vielleicht nur eine rote Ampel: Die Bischöfin ignorierte das Haltesignal, die Polizei stoppte sie und maß einen Blutalkoholwert von 1,54 Promille.
Betrunken hatte sie ihren VW Phaeton durch die Innenstadt Hannovers gefahren. Ein strafrechtliches Vergehen, keine Frage, ein Fehlverhalten, auch das. Und doch ein buchstäblich alltägliches, wie ein Blick in die Statistik des Kraftfahrtbundesamts zeigt: 91.200 Fahrer erhielten allein im Jahr 2008 Fahrverbote wegen Alkohol oder anderer Drogen am Steuer. Im Schnitt rund 250 pro Tag. Die Dunkelziffer derer, die betrunken Auto fuhren und nicht geschnappt wurden, dürfte weit höher liegen.
Dass Fahren unter Alkohol lebensgefährlich ist, dürfte Bischöfin Käßmann bewusst sein. In einem Interview mit dem TÜV Nord sagte sie 2007: "Es gibt zum Teil schon ein mangelndes Verantwortungsbewusstsein, insbesondere wenn Alkohol oder Drogen mit im Spiel sind. Wenn ich das manchmal so auf der Autobahn sehe: Manche Leute fahren wirklich, als hätten sie überhaupt nicht im Blick, welche Kraft in einem Auto steckt. Schon bei Tempo 50. Also wie lebenszerstörend ein Auto wirken kann. Viele sind sich nicht bewusst, dass sie mit einer Kraft umgehen, die sie gar nicht so beherrschen können."
Nun ist sie selbst Opfer ihrer Ansprüche geworden.
Wie menschlich muss eine Bischöfin sein, wie menschlich darf sie sein? Wie fehlbar ist zu fehlbar?
Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein, heißt es im Johannes-Evangelium. Schaut man sich die Biografie Margot Käßmanns an, so wird deutlich: Mit den eigenen Fehlern und dem Eingestehen der eigenen Fehlbarkeit hat sie - anders als viele ihrer männlichen Kollegen - nie hinter dem Berg gehalten.
Die Vorbildfunktion: "Wahrhaftig sein"
Käßmann, der gern die Attribute "klein" und "zäh", bisweilen sogar "charmant" zugeschrieben wurden, hat sich stets exponiert. Privates und Berufliches sind in ihrem Fall nicht nur räumlich miteinander verwoben: im Erdgeschoss die Bischofskanzlei, im ersten Stock die Privatwohnung. Lebens- und Amtsführung sind bei einem Geistlichen ohnehin eng miteinander verknüpft: Wer Moral predigt, sollte wissen, wovon er spricht - und sich bestenfalls auch daran erinnern, wenn er von der Kanzel hinabgestiegen ist. Sonst droht der Verlust der Glaubwürdigkeit.
Margot Käßmann hat dieses Prinzip perfektioniert: Sie ist Theologin durch und durch, mit allem, was sie zu bieten hatte. Sie sucht die Öffentlichkeit, um ihre Botschaft zu propagieren - auch die Öffentlichkeit von Boulevardzeitungen und Fernsehtalkshows. Sie erreicht mit ihren Botschaften mehr Menschen als andere, gilt nicht nur als bekannteste Bischöfin Deutschlands, sondern auch als beliebteste.
Käßmann hat die Rolle ihres Amts stets mit viel Privatem gefüllt: Im August 2006 machte sie ihre Brustkrebserkrankung öffentlich, ein Jahr später die Scheidung von ihrem Mann. Ihre Vorbildfunktion bestehe darin, "wahrhaftig zu sein", sagte sie 2007 in einem Interview mit dem SPIEGEL, das eigene Scheitern eingeschlossen. Ihr Amt mache sie nicht unverwundbar.
Es sind solche Sätze, solche Bekenntnisse der eigenen Fehlbarkeit, die ihr die Sympathien zufliegen ließen. Käßmann ist nicht moralinsauer, nicht verbohrt, verbiestert oder weltfremd. Irgendwie wirkt es so, als stünde sie mitten im Leben. Es ist die glaubwürdige Inszenierung des Alltäglichen, mit allen Höhen und Tiefen, die sie zum Vorbild gemacht hat.
Der Begriff der Verwundbarkeit fällt häufig, wenn von Margot Käßmann die Rede ist. Weil sie ihre Wunden exponiere, sei sie in der Konsequenz unverwundbar, so die Schlussfolgerung. Weil sie mit einer entwaffnenden Offenheit agiere, müsste Kritik eben diesen Spielregeln folgen. Wer die Offensive zum Lebensprinzip erklärt, muss die Defensive nicht fürchten.
Das Prinzip: Beharrlichkeit
Zuletzt war es ihre Neujahrspredigt in Dresden, die sie unter Rechtfertigungszwang setzte. "Nichts ist gut in Afghanistan", hatte sie damals gesagt. "Waffen schaffen offensichtlich auch keinen Frieden in Afghanistan."
Was folgte war ein politisches Drama: Käßmann falle den Soldaten in den Rücken, schwäche ihre Moral, missbrauche ihr Amt, verschreibe sich einem naiven Pazifismus, hieß es. Kritik hagelte es von allen Seiten, aus allen politischen Lagern.
Doch Margot Käßmann blieb bei ihrem bewährten Muster: Mit Eigensinn trotzte sie den Angriffen, beharrte auf ihrer Meinung. Statt sich zu ducken oder hinter diplomatischen Leerformeln zu verstecken, konterte sie mit Wut und Trotz. "Wenn ich blauäugig bin, dann kann man mich ja ignorieren", sagte sie dem "Stern". Egal, ob man ihre Meinung teilt, fest steht: Die EKD-Vorsitzende hat Stellung in sehr weltlichen Angelegenheiten bezogen.
Ihre Rolle: Das Gewissen der Nation
Im Grunde ist genau das ihr Job: Wann immer es moralisch wurde in den vergangenen Jahren, wurde Käßmann gefragt. Ein bisschen ist sie der religiöse Wechselrahmen für alles, was einer Einordnung und einer Meinung bedurfte, sie fungiert als Gewissen der Nation. Ob es um Löhne im Sozialwesen, Babyklappen, Ethik in der Wirtschaft, verkaufsoffene Sonntage, den EU-Beitritt der Türkei, die Abschiebung von Asylanten, Sterbehilfe, Kinderarmut, Prostitution oder Abtreibungen ging - gefragt wurde Frau Käßmann.
Ihre Bücher sind Bestseller. "In der Mitte des Lebens" heißt eines ihrer Werke. Es handelt von den Erfahrungen einer Frau in den Vierzigern, von den körperlichen Veränderungen im Alter, von zurückgehendem Zahnfleisch, ergrauenden Haaren und erschlaffendem Busen. Das, was Frau Käßmann in dem Buch schreibt, ist vielen Lesern vertraut.
Zu Tausenden pilgern die Gläubigen zu Veranstaltungen, bei denen die Bischöfin auftritt - sie avancierte zu einer Art Popstar des Protestantismus.
Ihre Offenheit wurde belohnt: 2006 beerbte Käßmann Angela Merkel als "Frau des Jahres".
Das Vorurteil: "Sehr geehrter lieber Herr Landesbischof"
Ihr Weg dahin war lang, doch die Theologin war immer ganz vorne mit dabei: als erste, jüngste, einzige. Als Margot Käßmann im September 1999 ihren Posten antrat, war sie die zweite Frau auf einem Bischofsstuhl und mit 41 Jahren die jüngste unter den Bischöfen der 24 Landeskirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Ihre Vorgänger hatten zuvor versucht, die Wahlchancen der Bischöfin bei der Synode zu schmälern, indem sie ausgerechnet Käßmanns Familie ins Feld führten: Sie verwiesen auf die drohende Vernachlässigung der Kinder. Der Altbischof Eduard Lohse sagte damals, eine Mutter von vier Kindern sei mit dem "zeit- und kräftezehrenden Bischofsamt überfordert". Die fünf Kinder des Gegenkandidaten spielten dagegen keine Rolle.
Bei der Amtseinführung sprach der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder sie gleich zweimal mit "Sehr geehrter lieber Herr Landesbischof" an. Zeitgleich protestierte eine "Notsynode" in der Universität Hannover gegen ihre Wahl. Die Argumentation: Die Wahl einer Frau sei "unbiblisch", Käßmann zu links, zu weiblich, zu feministisch, zu unangepasst, zu politisch.
Die Brüche in ihrem Leben machten sie authentisch. Und jetzt? Hat sich die bürgernahe Bischöfin nun zu bürgernah gezeigt? Wie viele Fehler sind menschlich? Und welche dann doch untragbar für ein Amt?
Zu Richtern wollen sich nun auch Käßmanns schärfste Kritiker nicht aufschwingen.
Die entscheidende Frage sei, ob das Bischofsamt eine solche Belastungsprobe verkraften würde, sagte Käßmann, als ihre Scheidung bekannt wurde. Die Frage dürfte sich nun wieder stellen.