Billy Graham Letzte Salve aus "Gottes Maschinengewehr"

Der greise Massenprediger Billy Graham, der Führer der US-Evangelisten, rief zu seinem "letzten Kreuzzug" nach New York. Abertausende kamen zur Mega-Messe unter freiem Himmel, bei der die Herzen glühten und die Kasse klingelte.

New York - Der Weg zum Erlöser war ein steiniger für Russell Como. "Ich war einmal ein Homosexueller", berichtet der Handelsvertreter aus New York, als rede er von einer pubertären Trotzphase. "Ich hatte diese Gefühle, diese Triebe nach Sünde." Doch dann habe der Herr beschlossen, ihn auf den "Pfad der Tugend" zurückzuholen. Gottes Wegweiser dorthin: "Jesus, die Bibel und Billy Graham."

Und diese Dreifaltigkeit hat ihn schließlich hierher geführt, in den Flushing Meadows Park im New Yorker Stadtteil Queens. Flushing Meadows ist eigentlich kein Ort für fromme Sprüche. Das leicht abgetakelte Areal der Weltausstellung 1964 dient sonst als multikulturelle Grillterrasse für die Familien aus Queens und jeden Spätsommer als Kulisse der U.S. Open im Tennis. Im Minutentakt dröhnen die Düsenjets vom benachbarten Flughafen LaGuardia über die verdörrte Graslandschaft.

Der sieche Heilsbringer

An diesem Wochenende aber ist Gott gelandet zwischen den rostigen Resten der World Fair und dem Verkehrschaos des Grand Central Parkway. Der legendäre Evangelistenprediger Billy Graham, 86 und krebskrank, hat zu seinem "letzten Kreuzzug" gerufen, zu einer dreitägigen Massenmesse unter freiem Himmel, und allein am ersten Abend folgen 60.000 Gläubige seinem heiseren Ruf.

Sie nennen ihn das "Maschinengewehr Gottes", auch wenn die Krankheit sein Feuer längst gekühlt hat. Doch er will es noch einmal wissen. Der Vater der amerikanischen Evangelisten-Bewegung, die in diesen Tagen einen Auftrieb erlebt wie seit Generationen nicht, hat in seiner fast 70-jährigen Karriere vor "Königen, Königinnen und Prominenten in 185 Ländern" gepredigt, wie sein Sohn Franklin einen erinnert, hat Regierungen beraten und Präsidenten bekehrt und, so behauptet es die Legende, ein schwarzes Schaf namens George W. Bush von der Trunksucht geheilt, 1985 bei einem spirituellen Strandspaziergang in Maine.

Seine wahren Jünger aber sind die einfachen Leute. Nirgends zeigt sich das besser als hier in Queens, beim letzten "Goodbye und Adios" des siechen Heilsbringers, wie es Reverend A.R. Bernard sagt, der Chef-Organisator und Einpeitscher auf der enormen Bühne, auf der sich der 1200-köpfige Laienchor verliert.

"Satan lauert überall"

Schon Stunden vor Beginn der Messe haben die Kreuzritter den Park in Besitz genommen. Sie rücken mit der U-Bahn an und der Long Island Rail Road, per Auto und zu Fuß. Sie kommen auf Krücken und in Rollstühlen, mit Hockern, Liegen, Decken, Picknickkörben, Babys im Schlepptau, Frohlocken im Blick.

Es ist eine frohe Botschaft, der sie hier harren, heilsgewiss und bibelfest: Erlösung von Sünde, Schuld und Sorgenlast. Denn dies, sagt Bill McBoyd, ein Elektriker aus Brooklyn, der eine zerlesene Ausgabe der Heiligen Schrift in der Tasche stecken hat, "sind bange Zeiten". Abtreibung, Stammzellenforschung, Unzucht, Sterbehilfe, Pornografie: "Satan lauert überall."

Biblische Antworten auf Alltagssorgen

Doch Graham offeriert einen Ausweg aus all diesem sozialen Übel, die einzige "Hoffnung für die Zukunft": Ein Bekenntnis zum Gottesssohn, als "born-again Christian", als wiedergeborener Christ. Andernfalls drohe Verdammnis, weiß McBoyd - und belegt das, ohne nachschlagen zu müssen: "Erstes Buch Mose, 19:24. 'Da ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorra.'"

Solche Sprüche ölen nicht nur die Gottesfurcht. Sie ölen auch eine gigantische Geldmaschine. Graham ist schließlich der Chairman der Billy Graham Evangelistic Association (BGEA), einer Gesellschaft, die dank Büchern, Magazinen, CDs, Videos, DVDs und Spenden voriges Jahr 115,6 Millionen Dollar Umsatz machte und ein Reinvermögen von 384,4 Millionen Dollar hatte. Das kommt nicht vom Beten allein.

In Flushing Meadows haben sie deshalb neben den 70.000 Klappstühlen, den Plumpsklos und den Hot-Dog-Buden auch Zelte aufgestellt, wo es Graham-Paraphernalien zu kaufen gibt. Etwa das "Christian Worker's Handbook", das für 12 Dollar "biblische Antworten auf die dringenden Sorgen unseres Alltags" bietet (Frage: "Wie weiß ich, dass ich ewiges Leben habe?" Antwort: "Gott sagt es so.") Oder der christliche Antidrogenthriller "Last Flight Out" - "die Story einer internationalen Rettungsaktion mit unerfüllter Romanze" - sowie das Abenteuer "The Climb" über die Läuterung des Rowdys Smokey Bank (je 15 Dollar als DVD).

"Christus ist mein bester Freund"

Rachel Mason und ihre Girlfriends Kendra Gauntlett, Taylore Harris und Michelle Moreau brauchen derlei Glaubenshilfen kaum mehr. Die Cheerleader, 16 bis 18 Jahre jung, sind eigens aus Sarasota in Florida nach New York gepilgert, um erst eine Broadway-Show zu sehen ("Beauty and the Beast") und dann Billy Graham, "unseren Helden, unser Vorbild".

Sie sehen aus wie die meisten Mädels ihres Alters: enge Jeans, bauchfreie T-Shirts, Fingernägel im grellem Pink, Kaugummi im Mund, kunterbunte Handys, die mit Britney-Spears-Hits klingeln. Doch der Unterschied liegt innen - "im Geist", wie sie unisono sagen.

Der christliche Nachwuchs ist opferbereit. "Wir heben uns für Gott und die Ehe auf", erklärt Taylore. "Ich gehe nur mit Christen", sagt Kendra. "Ich kenne eine, die geht mit einem Muslim. Der kommt ja nicht in den Himmel!"

Das mit den Muslimen ist so eine Sache. Kurz nach dem 11. September 2001 war das, als Franklin Graham, der Sohn und Erbe, den Islam "eine sehr böse und verruchte Religion" nannte. Ganz im alten Geiste des Vaters, der sich einst ja bei Richard Nixon beklagt hatte, die Juden hätten das Land im "Würgegriff" - eine Tirade, die ihm, trotz späterer Abbitte, bis heute nachhängt.

Die Messe beginnt: Einstimmungsreden, Danksagungen, Bekehrungsbezeugnisse, christliche Salsamusik. Kollekteneimer machen die Runde, "Cash, Schecks oder Kreditkarten". Und dann kommt er endlich, "unser Sendbote Gottes", und die 60.000 springen jubelnd auf.

Tipps fürs "christliche Leben"

Schwach und gebrechlich schlurft Graham ans Podium, auf eine Gehhilfe gestützt. Seine Hand zittert. "Ich bete für New York", spricht er und zitiert er seine Lieblingsgeschichte von Jesus und dem Pharisäer Nikodemus: "Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden." Er beschwört die zehn Gebote, Mel Gibsons Kreuzigungsfilm "Die Passion Christi" und das Heimteam der New York Yankees ("Sie brauchen unsere Gebete"). Viel mehr sagt er nicht, nach 20 Minuten versagt die Stimme, dann verstummt er ganz.

Kein Gebrüll, keine Tiraden, selbst nicht gegen die Zehntausenden Schwulen, die am selben Wochenende drüben in Manhattan ihr großes Gay Pride Weekend feiern, ausgerechnet. Die Botschaft kommt trotzdem an. Das offenbart sich am Ende, beim sowieso wichtigsten Teil des Christen-Aufmarschs - der Massen-Bekehrung. Dazu ruft Graham seine Anhänger zu Tausenden nach vorne zum Altar, wahlweise zu einer der vielen Jumbotron-Leinwände. "Altar Call" heißt das: ein Ritual, mit dem sich nach BGEA-Angaben bisher bei 416 "Kreuzzügen" 3.198.522 Menschen zu Jesus bekannt haben, per "christlicher Neugeburt".

Dann ist alles vorbei. Artig defilieren die Scharen zurück zur Bahnstation. "Gott hat den Tsunami verursacht", steht auf dem Plakat eines einsamen Protestlers. Im Schatten der Bühne sortieren Grahams stille Helfer die "Erfüllungszertifikate" der taufrischen Jünger, um sie in die BGEA-Datenbank einzuspeisen.

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