Lukas Eberle

Brief der NRW-Landesregierung an Kita-Eltern Die Ich-muss-weg-Politik

Lukas Eberle
Ein Kommentar von Lukas Eberle, Düsseldorf
Nordrhein-Westfalens Landesregierung lässt die Kitas offen – setzt aber die Eltern dezent unter Druck, ihre Kinder fortan zu Hause zu betreuen. Das ist die denkbar schlechteste Lösung.
Nachricht an die Eltern einer geschlossenen Kölner Kindertagesstätte während des ersten Corona-Shutdowns im April 2020: An wen denkt die Politik?

Nachricht an die Eltern einer geschlossenen Kölner Kindertagesstätte während des ersten Corona-Shutdowns im April 2020: An wen denkt die Politik?

Foto: Henning Kaiser/ dpa

Wer sein Kind in Nordrhein-Westfalen in eine Kita schickt, hat am Freitag einen bemerkenswerten Brief bekommen. »Informationen für Eltern« steht oben, der Absender: Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen. In dem Schreiben geht es um das »explodierende Infektionsgeschehen« und die »angespannte Lage auf den Intensivstationen«. Dann steht dort, dass die Regierung die Kitas trotz des anstehenden Lockdowns bis zum 10. Januar nicht schließen werde.  

Aber wie das so ist bei solchen Briefen, taucht der entscheidende Satz erst auf der zweiten Seite auf, ganz am Ende: Es gehe der »dringende Appell an alle Eltern«, das Betreuungsangebot in den kommenden Tagen »nur zu nutzen, wenn es absolut notwendig ist«. Man solle von »allen anderen Möglichkeiten Gebrauch« machen, Beruf und Betreuung zu vereinbaren. Welche Möglichkeiten das sein sollen, steht dann leider nicht mehr in dem Brief.  

Man könnte das so zusammenfassen: Liebe Eltern, die Kitas bleiben auf, aber ob Sie Ihr Kind noch dorthin bringen, müssen Sie selbst entscheiden. Ach, und bitte entscheiden Sie bloß nicht falsch! 

Der Shutdown im Herbst hat zu wenig gebracht

Der Brief ist Zeugnis einer Politik, die Verantwortung abwälzt. Er ist Ausdruck einer Ich-muss-weg-Politik, bei der sich Entscheidungsträger durch die Hintertüre verabschieden, weil sie merken, dass sie den markigen Worten, die sie lange Zeit benutzt haben, nicht mehr gerecht werden können. 

Fast 30.000 Menschen infizieren sich derzeit täglich mit dem Coronavirus, es gibt jeden Tag fast 600 Tote. Der Shutdown im November hat das Fortschreiten der Pandemie nicht ausreichend bremsen können, das ganze Land steuert nun in den Lockdown. Selbstverständlich muss man bei solchen Zahlen auch darüber diskutieren, ob die Kitas offen bleiben können. Es gibt gute Gründe sie dichtzumachen. Doch darum geht es hier nicht. Der Punkt ist der Umgang der Politik mit dieser Frage. Er ist, um es vorsichtig auszudrücken: erratisch.  

Im Frühjahr, während der ersten Welle, wurden Schulen und Kitas schnell flächendeckend geschlossen. Die Belastung und der Protest der Eltern waren groß. Nordrhein-Westfalens Familienminister Joachim Stamp (FDP) sagte später, dass es so etwas mit ihm kein zweites Mal geben werde. Er sagte das oft. Sehr oft. Zuletzt am vergangenen Dienstag: »Ich bleibe bei meiner Zusage, dass es mit mir in dieser Landesregierung keine landesweiten Schließungen von Kindertagesbetreuungsangeboten geben wird.«  

Der Familienminister hat sich selbst den Handlungsspielraum genommen

Dabei zeigt sich seit neun Monaten, dass die Politik in der Pandemie mit Versprechen und Prognosen eher vorsichtig sein sollte. Als Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) Ende Oktober die Maßnahmen für den November-Shutdown verkündete, betonte er das Enddatum der Regeln: »Am 30. November sollen die Maßnahmen, die jetzt beschlossen worden sind, beendet werden.« Man brauche danach gar nicht zu diskutieren, in welchen Bereichen wieder geöffnet werde und in welchen nicht. Anfang Dezember gab sich Laschet in einem WDR-Interview zerknirscht: Man sei da wohl zu optimistisch gewesen. 

Seinem Familienminister war das offenbar keine Lehre. Mit seinem uneingeschränkten Nein zu Kitaschließungen hat sich Stamp selbst den Handlungsspielraum genommen.  

Der Minister hätte die Kitas bis Weihnachten offen halten können und auf seinen mahnenden Brief verzichten können. Aus Infektionsschutzgründen vermutlich gewagt, aber politisch zumindest stringent. Stamp hätte die Kitas auch flächendeckend schließen und eine Notbetreuung für Kinder von Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften veranlassen können. Er hätte sein Versprechen zwar gebrochen, er hätte womöglich einen Fehler zugeben müssen. Aber wer hätte ihm diese Entscheidung angesichts der aktuellen Infektions- und Todeszahlen übel genommen? 

Die denkbar schlechteste Lösung

Stattdessen hat sich der Minister für Möglichkeit Nummer drei entschieden: den Mittelweg. Kitas offen, wie versprochen – plus einem Appell an die Eltern, das Angebot besser nicht zu nutzen. Es ist die denkbar schlechteste Lösung. Im Brief des Ministeriums steht dieser Satz: »Das gesellschaftliche Leben muss so weit runtergefahren werden wie möglich. Auch die Kindertagesbetreuung kann hier einen Beitrag leisten.« Übersetzt: Wer solidarisch ist, behält sein Kind jetzt zu Hause, auf dem Schoß, während die Videokonferenz mit den Kolleginnen und Kollegen läuft.  

Oder doch nicht? Sollen auch die Eltern, die nicht auf einer Intensivstation arbeiten, ihre Kinder weiter in die Kita schicken? Wäre das vertretbar? Wann ist es denn »absolut notwendig«, wie es in dem Brief aus dem Ministerium heißt, dass ein Kind in der Kita betreut werden muss? Wie entscheidet man so etwas? Unklar. Fest steht nur, dass die Eltern mit dieser Politik in eine moralische Zwickmühle geraten. Eine Politik der klaren Regeln geht anders, in einer Zeit der großen Verunsicherung die Menschen noch ein Stück mehr zu verunsichern, das ist beachtlich. 

Am Freitag versuchte der Familienminister, seine Mittelwegspolitik auf einer Pressekonferenz zu erklären. »Wir gehen einen Weg, der den Familien die Sorge für die Betreuung in dieser schweren Zeit nehmen kann«, sagte Stamp. Das Gegenteil ist richtig. Die Familien grübeln jetzt, ob es sich verantworten lässt, die Kinder in die Kitas zu schicken. Sie haben keine Sorge weniger. Sie haben eine mehr.

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