Bundesregierung und Modeindustrie Manifest gegen den Magerwahn
Hamburg - Das Zauberwort besteht aus nur drei Buchstaben: BMI. Der Body-Mass-Index (BMI) ist die Formel, die das Problem greifbar macht und in Zahlen ausdrückt, was nur schwer zu begreifen ist: dass immer mehr junge Frauen dünn sein wollen, dürr um genau zu sein. Dass sie Schlankheit für Schönheit halten und hervorstehende Knochen für den Inbegriff der Selbstdisziplin.
Der BMI lässt sich leicht berechnen: Gewicht geteilt durch Größe zum Quadrat. Der Quotient besagt, ob man zu dünn ist oder zu dick, ob Mager- oder Fettsucht drohen oder aber man sich im Durchschnitt suhlt.
Ab einem BMI von 18,5 gilt man als normalgewichtig, 18,49 ist bereits Untergewicht: Eine Zahl als Indikator für ein falsches Ideal. 1,6 Millionen Deutsche sind Schätzungen zufolge untergewichtig, besonders die Zahl der zu dünnen Jugendlichen ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Laut Bundesgesundheitsministerium leidet bereits jedes fünfte Kind zwischen elf und 17 Jahren an Essstörungen, insgesamt fast 1,4 Millionen. Bei einer Umfrage erklärten fast 60 Prozent der 13- und 14-Jährigen sie fühlten sich zu dick.
Untergewicht als Ideal
Zu viele, meint Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) und hat im vergangenen Dezember gemeinsam mit ihren Kolleginnen Annette Schavan und Ursula von der Leyen die Kampagne "Leben hat Gewicht - gemeinsam gegen den Schlankheitswahn" gestartet. Das Ziel: jungen Menschen ein positives Körperbild vermitteln und ihr Selbstwertgefühl stärken. Der Weg: Selbstverpflichtungen der Verantwortlichen.
Als erstes hat Ulla Schmidt nun die Mode- und Modellbranche ins Boot geholt. In Berlin unterzeichneten Vertreter der Textilbranche nun eine Nationale Charta, die helfen soll, den Magerwahn zu unterbinden. Die Modeindustrie gilt vielen als Ursprung allen Übels: Immerhin sind es die Magermodels auf den Laufstegen dieser Welt, die Untergewicht als etwas Erstrebenswertes und Ästhetisches erscheinen lassen - und zugleich das Problem versinnbildlichen.
Wenn also eine Selbstverpflichtung von Nöten ist, dann die der Modebranche. Ulla Schmidt hat sie alle an einen Tisch gebracht: den Veranstalter der weltgrößten Modemesse in Düsseldorf, Igedo, den GermanFashion Modeverband - die Interessenvertretung der Modeindustrie - das Deutsche Mode Institut - das für die Hersteller die Trends untersucht - und den Verband lizenzierter Modellagenturen (VELMA).
Die Inhalte der Charta
Gemeinsam wollen sie laut Charta "die Öffentlichkeit für ein gesundes Körperbild sensibilisieren und einen Bewusstseinswandel in Gang setzen" und so "einen Beitrag zur Prävention von Essstörungen leisten". Die Unterzeichner verpflichten sich zur Umsetzung von elf Punkten.
Sie wollen:
- einen Prozess des Umdenkens in Bezug auf geltende Schönheitsideale anregen
- sich gegen krankhafte Vorbilder extremer Magerkeit stellen
- gemeinsam mit Medien, Werbung, Wirtschaft und Politik das oft vermittelte gesundheitsschädigende Körperbild korrigieren
- ein branchenübergreifendes Engagement anregen
- betonen, dass die Darstellung eines gesunden Körperbildes und modische Kreativität und Vielfalt keine Gegensätze darstellen
- darauf achten, dass beim Einsatz von Models ein BMI von 18,5 und ein Mindestalter von 16 nicht unterschritten werden
- sich verpflichten, keine Bilder von Magermodels zu akzeptieren und zu verbreiten
- sich für die Förderung präventiver Maßnahmen einzusetzen
- zu einer europäischen Debatte beitragen und eine europäische Charta anstreben
- interne Regelungen zur Umsetzung der Charta entwickeln
- weitere Unterstützer in ihrem Umfeld suchen
Die Beteiligten betonen, die Erarbeitung der Charta sei ihnen leicht gefallen, auf die wesentlichen Punkte habe man sich schnell einigen können. Der Grund ist einfach: Die Modebranche will Vorbild sein - in der Pflicht sieht sie sich aber nur bedingt.
Das "gefestigte Alter" trägt 40plus - keine Größe 34
Den dürren Vorbildern zu Leibe zu rücken fällt der deutschen Modeindustrie nicht schwer: Der Umsatz mit den winzigen Größen bewegt sich im Promillebereich. Die relevanten Hauptumsätze werden von Größe 38 aufwärts gemacht. Längst gibt es auf den Modemessen "Supersize-Schauen", längst hat sich das 40-plus-Angebot etabliert - vor allem beim "gefestigten Alter", wie es in der Branche heißt.
Denn: Die Deutschen sind zu dick. Jeder fünfte Bundesbürger ist adipös und hat einen BMI von mehr als 30. Bei den Jugendlichen sind es 18 Prozent; zu dünn sind sieben Prozent der Mädchen und acht Prozent der Jungen. Auf jedes dünne Kind kommen also zwei dicke. Unter dem Schlagwort "Fit statt fett" fand eine weitere Kampagne der Bundesregierung daher seinen Weg in die Schlagzeilen. Offiziell, so betont das Ministerium, trägt der Aktionsplan den Namen "In Form - Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und Bewegung". Das klingt besser, meint jedoch das Gleiche.
Es zeigt aber auch: Die deutsche Modeindustrie, deren Existenz auf dem Vertrieb von Kleidung beruht, muss sich den Maßen der Deutschen anpassen. Das heißt: produzieren, was die Deutschen tragen können - nicht, was sie gern tragen würden. An der Stange hängen Kleider, Hosen, Röcke in den Durchschnittsgrößen, keine Ideale.
Es geht um den Markt - nicht den Wahn
Und so bekennen sich die Einzelnen zwar zu ihrer Verantwortung - bietet die Charta doch eine gute Möglichkeit, das Ansehen der eigenen Branche aufzumöbeln - betonen aber zugleich, dass es das Phänomen Magerwahn in der deutschen Modeindustrie als solches kaum gibt.
"Wir wollen ein Zeichen setzen", sagt Thomas Kötter, Unternehmenssprecher der Igedo, SPIEGEL ONLINE. Aber das Problem der Magermodels sei vor allem ein Problem der großen Haute-Couture-Schauen in London, Paris und Mailand. Bei der weltgrößten Modemesse in Düsseldorf hingegen ginge es auf den Laufstegen schon lange weniger dürr zu. "In Deutschland geht es eher um tragbare Mode."
Durchsichtige Blusen auf knöchernen Körpern haben wenig mit der Realität deutscher Kleiderschränke gemein. "Irgendwer muss anfangen", sagt Kötter und setzt nach, dass man nun bemüht sei, auch die Publizisten und die Werber für die Kampagne zu gewinnen.
Woher kommt der Wahn? - Man wähnt sich ratlos
Auch Thorsten Fuhrberg, Vorstandsmitglied des Verbandes der Modellagenturen, betont, man wolle "Vorbild" sein - aber auch in der Vergangenheit habe es eigentlich in der Branche keine Probleme gegeben. Also keine Magermodels? Keine Kindergrößen?
"Das ist ein Problem, was es so nicht wirklich gibt, und nach der Charta gar nicht mehr geben wird", beharrt er. "Die Ursachen für den Magerwahn liegen in der Gesellschaft, nicht in der Branche. In der Branche gibt es solche Tendenzen nicht." Immerhin wollten die Einkäufer bei den Schauen sehen, wie ihre Mode wirkt. Und die Einkäufer haben mit Haute Couture wenig im Sinn - ihnen geht es um die Mode, die in der kommenden Saison in den Schaufenstern der Fußgängerzonen hängt.
Wenn es aber nicht die dürren Models sind, und nicht die Modeindustrie - woher kommt dann der Magerwahn? Man habe bei den Treffen lange darüber beraten, sagt Fuhrberg. Die jungen Mädchen orientierten sich an schlanken Freundinnen und der Körper selbst sei zur Fashion geworden. Mehr nackte Haut bedeute auch mehr Körperbewusstsein. "Unsere Branche macht jetzt einen Schritt nach vorne - und andere müssen folgen."
Die anderen, das sind die Verleger, die retuschierte Einheitsblondinen auf die Titelblätter hieven und auch die Werbeindustrie, die von der Kommerzialisierung von Idealen und Bedürfnissen lebt.
Doch die Ziele der Kampagne umzusetzen, bleibt so oder so schwierig. Denn: Was ist ein positives Körperbild? Und wie stärkt man das Selbstwertgefühl junger Frauen? Fest steht: Die Vereinbarung eines Mindest-BMIs und eines Mindest-Alters für Models werden dafür kaum reichen. Denn die Zahlen machen das Problem zwar greifbar - auf den Grund gehen sie ihm aber nicht.