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Verschüttete Kumpel in Chile: Sirene verkündet Durchbruch

Foto: Marcelo Hernandez/ dpa

Chiles verschüttete Kumpel "Wir fühlten uns wie Kinder, auf die es Süßigkeiten regnet"

Der Bohrtunnel ist fertig, ganz Chile jubelt: Schon in den nächsten Tagen können die ersten der in 700 Metern Tiefe eingeschlossenen Bergarbeiter aus ihrem dunklen Gefängnis evakuiert werden. Eine Rettungskapsel soll die Mineros ans Licht bringen - und die ganze Welt wird zuschauen.

Alberto Iturra will sich gerade zum Kaffee setzen. Es ist Sonnabend, und nach sechs Wochen voller 18-Stunden-Tage hat er seiner Frau ein ruhiges Frühstück versprochen. Doch dann klingelt sein Telefon. "Ich muss los", sagt er. Schneller als erwartet hat sich der Bohrer in der Nacht durch die letzten Meter Gestein in den Werkstattraum, zu den eingesperrten Mineros, gefressen.

Iturra steigt in seinen kleinen Suzuki. Der 60-Jährige leitet das mehrköpfige Psychologenteam an der Mine San José und ist mit verantwortlich dafür, dass sich die 33 Männer dort unten in 700 Meter Tiefe seit dem Unfall vom 5. August noch nicht gegenseitig an den Kragen gegangen sind.

"Die erste Etappe ist vollbracht", sagt er, während er mit hundert Stundenkilometern durch die Atacama-Wüste jagt, vorbei an Autowracks, die in den Wochen der Rettungsaktion von der Piste abgekommen und gestrandet sind.

Der Weg zu den Kumpels ist jetzt frei - im Prinzip. "Man kann durch eine Kamera sehen, dass der Schacht in einem sehr guten Zustand ist, das Gestein ist sehr, sehr hart", sagt der Chef der Firma Geotec, Pedro Buttazzoni. Laut ihm muss nur ein kleiner Teil des Schachts zur Stabilisierung mit Metall ausgekleidet werden. Ursprünglich war man davon ausgegangen, dass der gesamte Schacht stabilisiert werden muss, bevor die Kumpel mit einer Rettungskapsel an die Erdoberfläche geholt werden können.

Jetzt bloß nichts überstürzen. Alle wollen das Worst-Case-Szenarium vermeiden. Wenn einer der 33 bei der Auffahrt steckenbleibt, weil die Kapsel am rauen Felsen beschädigt wird? "Nicht auszudenken", sagt Iturra.

Während der Psychologe jeden Tag die Stimmung seiner Schützlinge in der Tiefe überprüft, muss er schon an nächsten und übernächsten Schritt denken. Seit dem 22. August geht das so. Jetzt, wo der Durchbruch geschafft ist, denkt er an die entscheidende Phase: "Montag haben wir alles fertig, frühestens in der Nacht zu Dienstag können wir die Ersten hochholen." Iturra hätte es gerne, dass der erste Minero in der Nacht rausgeholt wird - weil dann nicht das Problem mit der grellen Wüstensonne auftritt.

Sie könnte nach Monaten der Dunkelheit zu irreparablen Augenverletzungen führen. Andererseits: "Nachts sind wir alle so kaputt nach dem langen Arbeitstag." Und bei der Bergung, die immer wieder eingeübt wurde, müssen alle hellwach sein, jeder Handgriff muss sitzen. Ein Team von über hundert Ingenieuren, Ärzten, Psychologen, Marinesoldaten und Sozialarbeitern ist an der Rettung beteiligt. Fünf Hubschrauber stehen bereit, um die Männer ins Krankenhaus in der nahen Kreisstadt Copiapó zu fliegen.

Gigantischer Medienzirkus in der Wüste

Wer wird der Erste sein, der gerettet wird, wer der Letzte? "Luis Urzúa, der Schichtleiter und Chef der 33, wird als 33. rauskommen", sagt Iturra. "Das ist sicher. Wie der Kapitän auf einem Schiff, der als Letzter geht".

Wer als Erstes die einstündige Auffahrt in der käfigartigen Kapsel machen wird, überlegen die Helfer gerade noch. Es sind viele Interessen im Spiel. Denn das Bild des ersten Kumpels, der mit einer dicken Sonnenbrille winkend und wankend aus der Kapsel steigt, wird ein Jahrhundertfoto, ein Bild, auf das die Welt wartet.

Präsident Sebastián Piñera möchte die Rettungsaktion zu einer gigantischen Werbeaktion für sein Land machen. "Das Präsidialamt will, dass Mario Sepúlveda unter den Ersten ist", sagt der Psychologe. Der 40-Jährige ist so etwas wie der Sprecher der 33, ein geborener Führer, wie seine Frau Elvira sagt. Er war es, der vor Wochen in der ersten, dramatischen Videonachricht aus der Tiefe das Wort ergriff: "Das ist eine Botschaft für das ganze chilenische Volk", hatte seine Botschaft damals begonnen. Und dann hatte er eine Lobesrede auf die chilenischen Minenarbeiter gehalten: "Wir sind nicht mehr die Kumpel von vor 150 Jahren. Heute sind wir gebildet und vorzeigbar."

Während Iturra zu seiner Besprechung rast, heulen die Sirenen der Rettungskräfte, um den erfolgten Durchbruch anzukündigen. Etwas weiter unter dem sogenannten Hoffnungscamp läuten die Angehörigen der Eingeschlossenen die Glocke einer als Quartier genutzten Schule, um die Nachricht zu feiern.

Mütter und Ehefrauen umarmen sich. Unterdessen werden die ersten Bilder und Videos vom Moment des Durchbruchs angeschaut. "Wir fühlten uns wie Kinder, auf die es Süßigkeiten regnet", sagt in einem Clip die Stimme eines Kumpels über den Moment, als der Bohrer kurz vor dem Durchbruch stand und Dutzende Gesteinsbrocken in den Werkstattraum tief unter Tage regneten.

Auch für Gastón Henríquez ist es ein erhebender Moment. "Das Schlimmste ist geschafft, jetzt holen sie die Jungs bald raus", sagt er. Er war selbst lange Minero. Gastóns Bruder José Henríquez gehört zu den 33 und ist der Gläubigste unter den Minenarbeitern im Bergverlies, Anhänger einer evangelischen Freikirche. "Sein Glauben hilft ihm, das alles auszuhalten", ist sich Gastón sicher.

Der Psychologe Iturra hat für die 40 Kilometer von seinem Wohnsitz in Caldera zum Bergwerk San José diesmal nur eine halbe Stunde gebraucht, zehn Minuten weniger als sonst. Es erwarten ihn ein langer Tag und viele Entscheidungen. Als er seinen Wagen im Schritttempo durch das Hoffnungscamp lenkt, schüttelt er den Kopf angesichts der Dutzenden Kameras, Mikrofone und der hektischen Reporter: "Das hier ist jetzt das Pressecamp und nicht mehr das Hoffnungscamp."

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