Terrorsekte Colonia Dignidad "Wie viel wusste die Diplomatie?"

Colonia Dignidad, heute bekannt als "Villa Baviera"
Foto: AFPJahrzehntelang herrschte der Deutsche Paul Schäfer über die rund 300 Mitglieder der Colonia Dignidad , jene berüchtigte deutsche Siedlung in Chile . Er schaffte eine Sektenstruktur, die es ihm ermöglichte, im Verborgenen eine regelrechte Schreckensherrschaft aufzubauen. "Mini-Terrorstaat", geführt mit "mitleidsloser Brutalität", nennt Florian Gallenberger die Enklave. Der Regisseur hat gerade einen Kinofilm über die Sekte gedreht .
Viele Jungen in der "Kolonie der Würde" wurden von Schäfer missbraucht , die Mädchen geschlagen und gedemütigt, Familien getrennt und Liebesbeziehungen verboten. Wer nicht gehorchte, wurde mit Elektroschocks gequält und mit Psychopharmaka betäubt. Hunderte politische Gefangene des Regimes unter General Augusto Pinochet wurden in der Kolonie gefoltert, Dutzende ermordet.
Viele Schuldige blieben von der Justiz unbehelligt
Währenddessen pflegte Schäfer gute Kontakte nach Deutschland, unter anderem zu CSU-Politikern und wurde von Waffenhändler Gerhard Mertins beliefert. Und das obwohl es bereits Ende der Sechzigerjahre Berichte über Verbrechen in der Kolonie gab.
Doch erst 2005 wurde Schäfer nach Jahren auf der Flucht gefasst und später wegen Mordes, Folter, sexuellen Missbrauchs Minderjähriger und anderer Verbrechen zu einer Haftstrafe von insgesamt 33 Jahren verurteilt. Doch viele Schuldige blieben von der Justiz unbehelligt, in Deutschland werden die Verbrechen erst jetzt juristisch aufgearbeitet .
Aber was wusste die deutsche Diplomatie? Und wann? Der Politikwissenschaftler Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile - Lateinamerika in Berlin fordert nun das Auswärtige Amt auf, endlich geheime Akten zur "Colonia Dignidad" offenzulegen.
SPIEGEL: Am 26. April lädt Außenminister Frank-Walter Steinmeier Opfer der Colonia Dignidad und Zeitzeugen ins Auswärtige Amt ein. Was erwarten Sie von diesem Termin?
Stehle: Ich wurde von der Einladung positiv überrascht, auch von der Ankündigung, das Auswärtige Amt wolle die unkritische Haltung deutscher Diplomaten gegenüber dieser verbrecherischen Organisation aufarbeiten lassen. Den Worten müssen aber Taten folgen: Noch immer sind viele Akten unter Verschluss. Selbst wenn sie freigegeben werden, muss es Mittel geben, um sie seriös aufzuarbeiten, etwa durch eine Historikerkommission.
SPIEGEL: Warum wurden Ihnen diese Akten verwehrt?
Stehle: Es hieß "zum Wohle der Bundesrepublik" - oder dass man die Beziehungen zu Chile nicht beschädigen wolle. Ich habe auf Herausgabe geklagt und mich mit dem Auswärtigen Amt außergerichtlich geeinigt: Ich durfte dann Akten der deutschen Botschaft in Santiago lesen, unter der Voraussetzung, dass ich meine Dissertation vor Veröffentlichung dem Auswärtigen Amt vorlege. In die meisten Akten der Zentrale konnte ich bis heute nicht blicken. Eine Offenlegung der Verschlusssachen könnte vermutlich einiges zur Aufklärung beitragen.
SPIEGEL: Welche blinden Flecken gibt es in der Geschichte der Sekte?
Stehle: Die zentrale Frage lautet: Wie viel wusste die deutsche Diplomatie zu welchem Zeitpunkt über Missbrauch , Folter und Morde in der Colonia Dignidad? Bisherige Akten deuten darauf hin, dass das Wissen beim Auswärtigen Amt recht umfangreich war, aber man sehr spät versuchte, die schweren Menschenrechtsverletzungen zu beenden.
SPIEGEL: Der Kinofilm "Colonia Dignidad" legt nahe, dass die Verbindungen der deutschen Botschaft zum Sektenführer Paul Schäfer sehr eng waren. War das so?
Stehle: Der Botschafter im Film soll Erich Strätling sein, der tatsächlich enge Beziehungen zur Sekte hatte. Es gibt noch eine andere interessante Figur: Der Waffenhändler Gerhard Mertins, der sowohl in der Kolonie als auch in der Botschaft häufig zu Gast war und für den BND arbeitete. Auch seine Rolle muss noch dringend aufgeklärt werden.
SPIEGEL: Viele ehemalige Sektenmitglieder leben heute verarmt und ohne Rente in Deutschland. Muss der Staat sie entschädigen?
Stehle: Es gibt viele Opfergruppen: die chilenischen Oppositionellen, die in der Kolonie gefoltert und ermordet wurden, viele der ehemaligen Bewohner, die chilenischen Jungen, die von Paul Schäfer wie fast alle männlichen Bewohner der Sekte sexuell missbraucht wurden. Sie und ihre Angehörigen haben ein Anrecht auf eine Entschädigung beider Staaten, nicht nur finanziell, sondern auch durch weitere therapeutische Hilfen. 2002 hat der Bundestag einen Reparationsfonds gefordert, der nie umgesetzt wurde. Stattdessen zeigt man auf Chile, das den ersten Schritt tun soll. Beide Staaten müssten kooperieren, auch bei der strafrechtlichen Verfolgung der in Chile und Deutschland lebenden Täter. Auch die gemeinsame Errichtung einer Gedenkstätte und eines Dokumentationszentrums wäre ein wichtiger symbolischer Akt. Der geplante Besuch des Bundespräsidenten Ende Juli in Chile wäre eine gute Gelegenheit für solch ein Abkommen.