
Coronakrise Endlich frei!


Fußgängerzone in Kassel
Foto: Uwe Zucchi/ DPAKraft des Willens
Es gibt Menschen, die den Winden gebieten, den Fluten des Roten Meers und den Viren. Falls man nicht gerade Charlton Heston ist oder ein stabiles Genie mit gelben Haaren, sind das aber eher ungewöhnliche Fähigkeiten. Daher scheint es mir wunderlich, wie viele Menschen, auch hierzulande, seit einer Woche die Nachricht verbreiten, nun sei es aber mal genug mit dieser Epidemie und dem Homeoffice. Überhaupt sei der Deutsche wie der Amerikaner nicht gemacht für solch einen Virus; und es müsse daher jetzt einfach Schluss sein.
Auf dieser Grundstimmung schwimmen täglich ein paar Dutzend Experten für Getränkefachhandel, Atemfiltermasken, Existenzphilosophie und Alltagsheldentum auf und teilen uns mit, man müsse bedenken, dass alles auf der Welt im richtigen - um nicht zu sagen: gesunden – Verhältnis stehen müsse und daher nun die Zeit gekommen sei, über das Verhältnis zwischen toten Rentnern und lebendigen Einzelhändlern nachzudenken. Dieses "Nachdenken" ist eine euphemistische Umschreibung der ultimativen Forderung, entweder dieses Virus erkläre sofort die bedingungslose Kapitulation oder "die Wirtschaft" werde ihm zeigen, was eine Harke und ein Wunder ist.
Interessant ist es, welch ambivalente Rolle eine Population von sogenannten Experten in diesem Stück spielt, deren Existenz noch vor wenigen Monaten wahrscheinlich von einer Mehrheit der Bevölkerung mit Nichtwissen bestritten worden wäre: Virologen. Sie werden auch - auf Einzelheiten kommt es da nicht an - unter der Firma "Epidemiologe", "Seuchenforscher", "Infektionsexperte" und so weiter vorgestellt. Meistens laufen sie als "Mediziner", vereinen also die Kenntnis der Virenkunde mit der Kunst des Heilens. Das lässt sie aus der Schar der "Experten" herausragen, welcher sich das Publikum gemeinhin ergibt: Der Terror wird vom Terrorismusexperten, die Rente vom Rentenexperten und das Tomahawk-Steak vom Grillexperten erklärt.
Das Verhältnis des Bürgers zum Experten ist "ambivalent": mal so, mal so, mal weiß man es nicht. Zugleich sind die freien Bürger selbst Experten für alles, schon allein weil sie alle Dokus über die Wanderung der Pinguine in der Polarnacht und über die Kochkunst der Uiguren kennen und Freunde auf der ganzen Welt haben. Der "Experte", dessen Bezeichnung nur in der Dritt-Kommunikation Bedeutung hat, befindet sich in einer prekären Lage: Widerspricht sein Rat dem intuitiv Plausiblen, wird er als "selbst ernannt" verhöhnt oder als "Lobbyvertreter" denunziert. Derzeit breitet sich zudem eine erstaunlich demokratie- und diskursfreudige Stimmung unter denen aus, die noch vor einem Monat die führenden Politiker als Schwätzer ansahen und nach einer Herrschaft des Sachverstands verlangten. Nun können wir täglich lesen, man solle sich hüten vor einer Diktatur der Wissenschaft und der Macht der Experten.
Wille zur Kraft
Ich finde es beeindruckend zu sehen, wer sich hierzulande alles für "die Wirtschaft" und für "Wir" hält. Die Zahl der "Wir"-Menschen ist jedenfalls unendlich viel größer als die Zahl der Ichs, sodass namentlich im dienstleistenden Mittelstand, in der Welt der Freiberufler sowie im produzierenden Gewerbe Regungen wie Egoismus, Konkurrenzneid, Habenwollen und Rücksichtslosigkeit praktisch zum Erliegen gekommen sind angesichts der allgemeinen Not des Wir. Synchron dazu steigt das Mitgefühl von "Wir" mit den Abermillionen von ausgehungerten Kunden, Einsamen, Patienten, Schlechtgelaunten, denen derzeit nicht geholfen werden kann.
Es gibt nun oft schöne Abhandlungen und Interviews zu lesen über das Verhältnis von Tod und Wirtschaft, Krankheit und Reichtum, Mensch und Einzelhandel. Ausgangspunkt ist meist der Glaubenssatz: "Wir können nicht so lange die Wirtschaft lahmlegen, bis ein Impfstoff gefunden ist." Das ist schön gesagt, aber kurz gesprungen. Wir "können" selbstverständlich. In zahlreichen Ländern der Welt ist "die Wirtschaft" schon sehr lange und nachhaltig "lahmgelegt", weil irgendetwas nicht eintritt. Nicht, dass das ein schöner Zustand wäre - aber von "Nichtkönnen" kann nicht die Rede sein.
Es geht nicht ums Können, sondern ums Wollen; das muss klar sein. In der Frage danach, was "wir" uns angeblich "nicht erlauben können", ist die Antwort schon unter der Hand enthalten: dass der Sprecher es halt nicht will. Das mag legitim sein, und gewiss hat es auch Gründe. Es wäre der öffentlichen Verständigung dienlich, diese auch klar zu nennen. Um ein sprichwörtliches Bild zu bemühen: Wenn der Präsident der Frösche verkündet: "Wir können diesen Sumpf nicht länger als eine Woche entwässern", hat das für Frösche eine hohe Plausibilität, aber wirklich nichts mit Können zu tun. Eidechsen zum Beispiel sehen das ganz anders.
Sodann folgen die Fragen: "Darf man Gesundheit und Leben von Menschen mit wirtschaftlicher Prosperität ins Verhältnis setzen? Darf man Opfer an Leben und Opfer an Reichtum gegeneinander abwägen?" Diese Fragen stellen heißt zurzeit, sie zu bejahen. Avancierte Denker formulieren, dass man beides müsse, denn die Menschheit im Allgemeinen, die Gesellschaften im Kleinen und die Individuen haben schon immer Abwägungen zwischen Risiken und Chancen getroffen, Opfer und Gewinne ins Verhältnis gesetzt und Nachteile mit Vorteilen abgewogen. Das liegt nicht nur jedem Krieg zugrunde, sondern auch zahllosen Entscheidungen der Ökonomie, der Umweltbeherrschung und der sozialen Strukturierung. Man kann an den Bau von Atomkraftwerken samt den ihm zugrunde liegenden Prognosen über die mögliche Zahl der Todesopfer im Verhältnis zur Häufigkeit der Kernschmelze und zur Anzahl der Gewinnmilliarden erinnern; es reicht aber auch ein Blick auf den individuellen Autoverkehr.
Darüber hinaus liegt dem, was sich zwischen "Wir" und "unsere Wirtschaft" als Bedeutung aufspannt, ein großes "Abwägen" zugrunde, das freilich meist hinter einer Wand aus eisernem Nebel verborgen liegt: Der Reichtum, dessen Abhandenkommen nun angeblich bald Zehntausende in Depression und Suizid treiben könnte, ist die Kehrseite einer unermesslichen Armut für den weitaus größeren Teil der Menschheit. Die Lebenserwartung, die dazu führt, dass hierzulande die 70-Jährigen die Behauptung zurückweisen, sie gehörten zur Risikogruppe der "Betagten", ist ohne die Tatsache, dass die Lebenserwartung in zahlreichen Gegenden der Welt gerade halb so hoch ist, nicht erklärbar. Menschen etwa gegen Malaria zu impfen, würde weder zwei Billionen Dollar noch 156 Milliarden Euro kosten, sondern einen kleinen Bruchteil davon. Das ist aber denen zu teuer, die darüber zu entscheiden haben, was verhältnismäßig ist. Daher erkranken pro Jahr über 200 Millionen Menschen an Malaria, 90 Prozent davon in Afrika, und 500.000 sterben.
Es handelt sich, jenseits moralischen und ethischen Kopfwiegens, um schlichte Abwägungsprozesse, in welche Parameter und Kriterien unterschiedlicher Qualität eingehen. Natürlich möchte kaum jemand in Deutschland, dass die kleinen schwarzen Kinder jetzt gleich sterben, während er zuschaut und einen Euro für die Malariahilfe spendet. Aber aufs Ganze gesehen werden 200 Millionen Afrikaner dann doch eher zu 20 Milliarden Liter Super-Plus-Benzin oder zu 200 Millionen iPhones.
Das Angenehme an dieser Abwägungslage zwischen Opfern und Profiteuren ist, dass die in den reichen Ländern Lebenden erstens keinesfalls selbst zu den Opfern zählen, dass sie zweitens den Maßstab für die globale "Triage" bestimmen und dass sie drittens diejenigen sind, die die Auswahl treffen. Viel komfortabler kann eine Lage der Entscheidung zwischen Leben und Tod nicht mehr sein.
Insoweit ist die Corona-Epidemie eine große Enttäuschung: Sie verändert die Lage gleich in mehrfacher Hinsicht radikal: Erstens ist die Gefahr ganz nah. Zweitens gibt es, solange nicht wirksame Medikamente und ein Impfstoff gefunden sind, kein zuverlässiges Mittel, die Gefahr abzuwenden. Drittens können diejenigen, die die Auswahl der Opfer treffen, zu keinem Zeitpunkt sicher sein, auf welcher Seite sie selbst stehen. Das ist, als ob die derzeit diskutierte medizinethische Frage der "Triage" - der Auswahl eines von zwei gleichermaßen hilfebedürftigen Patienten mit der Konsequenz, dass der andere sterben muss - um die Komplikation erweitert würde, dass das Schicksal des Arztes selbst an das Leben eines der beiden Patienten geknüpft wäre, ohne dass er wüsste, welcher das ist: Dann wäre seine Auswahlentscheidung stets auch eine Entscheidung über das eigene Schicksal. Das ist nur ein Bild für eine ganz reale Variation: Niemand, der heute fordert, die Schutzmaßnahmen gegen die Verbreitung von Covid-19 müssten zum Nutzen "unserer Wirtschaft" beendet, eingeschränkt oder gelockert werden, kann sicher sein, dass nicht gerade er selbst, seine Angehörigen oder Liebsten als direkte Folge davon sterben oder lebensgefährlich erkranken werden.
Macht der Zahlen
"Lange werden sich das die Leute nicht mehr gefallen lassen… Bald könnte Revolution in der Luft liegen, wenn das so weitergeht. Stellt die deutsche Mittelschicht irgendwann fest, dass ihr Betrieb pleite, ihr Arbeitsplatz verloren oder ihr Aktiensparplan wertlos ist…"
Das sprach am 29. März der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP im Deutschen Bundestag an dieser Stelle. Man darf ja davon ausgehen, dass zwischen die FDP, die deutsche Mittelschicht und die Leute kein Blatt Papier passt und daher Herr Dr. Buschmann von einer Revolution berichtet, die in ihm selbst gärt. Die Sache mit dem Aktiensparplan hat allerdings kleine Haken - einige heißen Lehman Brothers, HSH Nordbank oder Commerzbank. Da sind eine Menge Aktiensparpläne den Bach hinuntergegangen, ohne dass der Mittelstand unter Führung der FDP zur Revolution geschritten wäre. Dort hieß es damals vielmehr: "Brüderle warnt davor, die Finanzkrise zur Systemkrise werden zu lassen, und fordert ein 'klares Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft' ein" ("Tagesspiegel", 2.11.2008) .
Das ist bei Covid-19 so eine Sache, wie früher mit den schwarzen Pocken. Das "Ende der Beschränkungen", demnächst (ab 20 April!) in diesem Theater, soll "die Risikogruppen nach Möglichkeit schützen", den anderen aber großherzig erlauben, "unsere Wirtschaft" zu beleben und die Revolution der Elektrofachhändler und Schraubenhersteller abzuwenden. Nun gut: Bei 25 Millionen Personen im Rentenalter, 8 Prozent Diabetikern, ein paar Hunderttausend Krebserkrankungen pro Jahr und mehreren Millionen Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden das spannende Auswahlrunden werden! Man darf sich schon auf die Prozesse freuen, die 55-jährige Lehrerinnen, 48-jährige Vertriebsingenieure, Installateure kurz vor dem Vorruhestand oder Marcumar-Konsumenten führen werden, denen befohlen wird, sich wieder an ihre Arbeitsplätze zu begeben. Sie werden auch weder die Spargel- noch die Apfelernte des Jahres 2020 einbringen.
Die Macht ist hier zwischen Opfer und Täter, Verlierern und Profiteuren nicht so klar verteilt wie zwischen Nord und Süd, Europa und Afrika. Es sterben nicht nur ganz Alte, sondern das Sterben wird mit dem Alter graduell häufiger. Das ist einem vielleicht egal, wenn man doof und 25 ist, aber nicht mit 45 oder 55. Diejenigen, die das entscheidende Risiko jeder Veränderung der Verhältnismäßigkeits-Beurteilung zu tragen haben, haben das Geld, die Macht und die Entscheidungsbefugnis. Und die "Säulen der Wirtschaft", die durch die Mühen der Kinderbetreuung und die Leere des Zu-zweit-Spazierengehens schon nach drei Wochen alle Kräfte verbraucht haben, müssen halt im Zweifel nicht nur den Laden am Laufen halten, sondern dafür auch noch Mama und Papa opfern. Und das dann die nächsten 50 Jahre extrem vernünftig finden. Das ist kein Vergnügen.