Coronapandemie Eine Impfpflicht für Pflegepersonal löst kein einziges Problem

Verpflichtende Spritzen bald für alle? »Der Effekt einer Impfpflicht für spezifische Berufsgruppen ist leider gering«
Foto: Bernd von Jutrczenka / dpaDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Der in diesen Tagen oft zitierte neue politische Stil in Berlin bringt bei der Debatte von Impfpflichten bisher vor allem eines hervor: die Suche nach Auswegen. Dies wäre in anderen Zeiten nicht mehr als eine Randnotiz. Niemand dürfte allzu überrascht darüber sein, dass Politiker spätestens am Tag des Amtseides wieder in der Realpolitik ankommen. In unserer von Coronaviren geprägten Gegenwart geht es jedoch um die Kernaussage eben jenes Amtseides, den am Mittwoch auch Olaf Scholz abgelegt hat. Der Eid verpflichtet laut Artikel 56 unseres Grundgesetzes dazu, Schaden vom deutschen Volke zu wenden.
Die ärztliche Berufsordnung fordert sehr Ähnliches von der Ärzteschaft im Umgang mit den ihr anvertrauten Menschen. Ärztinnen und Ärzte sind seit jeher verpflichtet, Schaden von Patienten fernzuhalten. Was zuerst nur wie eine feierliche Selbstverpflichtung aussieht, bekommt in Paragraf 2 der Ärztlichen Berufsordnung, der die allgemeinen ärztlichen Berufspflichten regelt, doch eine erhebliche Verantwortung, die zu tragen im Einzelfall große Standhaftigkeit erfordert. Dort ist in Absatz 1 festgelegt:
»Ärztinnen und Ärzte üben ihren Beruf nach ihrem Gewissen, den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit aus. Sie dürfen keine Grundsätze anerkennen und keine Vorschriften oder Anweisungen beachten, die mit ihren Aufgaben nicht vereinbar sind oder deren Befolgung sie nicht verantworten können.«
Im aktuellen pandemischen Geschehen stehen wir daher verantwortungsethisch an einem entscheidenden Punkt: Ist die Befolgung der aktuellen Grundsätze, Vorschriften und Anweisungen der Politik durch die Ärzteschaft noch zu verantworten? Bundestag und Bundesrat haben heute entschieden, eine Impfpflicht für Personal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen einzuführen. Auf den ersten Blick mag man das für eine gute Idee halten.
Was spräche dafür? Die vollständige Impfung dieser Personengruppe schützt davor, dass der infektionsbedingte Krankenstand in Kliniken und Pflegeheimen angesichts hochinfektiöser Virusvarianten in die Höhe schnellt. So wäre immerhin die Funktionsfähigkeit der Einrichtungen besser sichergestellt. Darüber hinaus sind Geimpfte seltener Überträger des Virus, wenn sich freilich auch die Hoffnung einer vollständigen Unterdrückung der Infektiosität nach Impfung leider nicht erfüllt hat. Dennoch trägt die Impfung des Personals dazu bei, die oft geschwächten Menschen in den Kliniken und Einrichtungen zu schützen. Gute Argumente, könnte man denken.
Der Effekt einer Impfpflicht für spezifische Berufsgruppen ist leider gering
Der erste Blick ist, wie so oft, auch hier nicht ausreichend: Die Impfpflicht für Personal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen löst kein einziges Problem. Bei durchweg hohen, teils hundertprozentigen Impfquoten in Krankenhäusern wird sich keine epidemiologisch bedeutsame Steigerung bei der Zahl der Geimpften ergeben. In manchen Pflegeeinrichtungen mögen Impfbereitschaft und Impfquoten noch steigerbar sein, aber auch dort gilt, dass das Personal darin geschult ist, Hygienemaßnahmen professionell umzusetzen und einzuhalten. Durch diese Maßnahmen und die breite Anwendung von Coronatests sind bisher nach einer sehr schmerzlichen anfänglichen Lernphase in stationären Einrichtungen Infektionsketten besser verhindert oder unterbrochen worden, jedenfalls an unserem Standort, auch schon vor der Verfügbarkeit einer Impfung. Der Effekt einer Impfpflicht für diese spezifischen Berufsgruppen ist also leider gering.
Vor allem Träger von Einrichtungen stehen in der Pflicht, unter den aktuell geltenden Regeln die Impfbereitschaft ihrer Belegschaft mit Nachdruck und Kreativität zu steigern, wie dies im Übrigen ja auch Arbeitgebern in anderen Sektoren offenbar hervorragend gelingt. Eine Impfpflicht für Personal in Kranken- und Pflegeeinrichtungen wäre zudem ein zwiespältiges problematisches politisches Signal. Die auch schon vor der Pandemie belasteten Berufsgruppen haben in den vergangenen zwei Jahren oft weit jenseits des Erträglichen mit hohem persönlichem Risiko die Versorgung auf hervorragendem Niveau aufrechterhalten.
Überfällige strukturelle Änderungen im Gesundheitssystem sind zwar von der aktuellen Bundesregierung angekündigt, dürften aber realistisch betrachtet kaum rechtzeitig für die Bewältigung der aktuellen Situation kommen. Vor diesem Hintergrund wirkt die Einführung einer auf Gesundheitsberufe bezogenen Impfpflicht wie eine Übersprungshandlung: Die allgemeine Impfpflicht würde der Pandemie den Schrecken nehmen, ist aber schwierig durchzusetzen und spaltet die Gesellschaft vielleicht weiter. Das Ausbleiben der Impfpflicht bewirkt eine Verlängerung der Pandemie bis schließlich auch alle Ungeimpften die Erkrankung irgendwann einmal durchgemacht haben. Die beiden Wahlmöglichkeiten schrecken ab, und so wird erst einmal etwas anderes beschlossen, das freilich wenig hilft und auch noch schaden könnte: Dem Personal in Kliniken, Alten- und Pflegeheimen wird das Ertragen einer weiteren Zumutung offenbar noch zugetraut.
Nur eine allgemeine Impfpflicht schützt Patienten und Personal gleichermaßen
Pflegerinnen und Pfleger – selbst wenn sie geimpft sind – könnten ihrerseits allerdings eine weitere Pflicht als den einen Tropfen ansehen, der das Fass der Lasten und Pflichten zum Überlaufen bringt, und dem Beruf den Rücken kehren. Dann würde die Impfpflicht für Beschäftigte in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen nicht nur kein Problem lösen, sondern neue Probleme schaffen.
Auf den zweiten Blick wird also klar: Nur eine allgemeine Impfpflicht schützt Patienten und Personal von Einrichtungen gleichermaßen und beugt einer Abwanderung von Personal vor. Auch das unsägliche Fälschen von Impfnachweisen und Testergebnissen sollte so zunehmend unnütz werden. Neben solch zugegeben pragmatischen Argumenten sprechen auch gewichtigere medizinische und ethische Gründe für eine allgemeine Impfpflicht.
In unseren nur zum Teil immunisierten Gesellschaften ist zu viel Raum für Mutationen, die gelernt haben, mit der Immunisierung umzugehen. Solche sogenannten Escape-Varianten, die die Gefahr mit sich bringen, den Impfschutz zu unterlaufen, haben es in einem Umfeld mit hoher Grundimmunisierung deutlich schwerer. Dazu sollten wir uns auch auf die Tugend solidarischen Verhaltens rückbesinnen. Dies schließt unser Land ebenso ein wie Europa und den globalen Süden.
Mit der allgemeinen Impfpflicht als entscheidendes Mittel zur Pandemiebeherrschung wäre jeder in gerechter und solidarischer Weise an der gemeinsamen Aufgabe des Schutzes unsere Gesundheit, unserer Freiheit und unseres Zusammenlebens beteiligt.
Was ist mit dem hohen Gut der körperlichen Unversehrtheit und den Freiheitsrechten, die durch eine allgemeine Impfpflicht berührt werden? Nun, es wird Impfkomplikationen geben. Aber dieselben Komplikationen und viel dramatischere kommen nach Covid-Erkrankungen, und das ungleich häufiger. Wenn man dem medizinischen Argument folgt, dass die Impfung das tauglichste Mittel zur Beherrschung der Pandemie ist, dann sollten auch die folgenden ethischen Argumente einleuchten.
Der relativ kleine, direkte Eingriff in den Körper, den eine der Zulassung gemäße Impfung mit einem gut erforschten, sicheren und wirksamen Impfstoff darstellt, ist gegen den indirekten, jedoch sehr viel größeren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit derjenigen abzuwägen, welche die sogenannten Opportunitätslasten der Pandemie tragen; die also zum Beispiel gezwungen sind, verschobene Eingriffe oder späten Zugang zu medizinischer Versorgung zu ertragen.
Ähnlich wird man bei der Abwägung von Freiheitsrechten argumentieren müssen. Dort, wo die Ausübung der Freiheitsrechte einer Minderheit die Freiheit und Sicherheit der Mehrheit einschränkt, wird man schwerlich gute Argumente für eine Fortsetzung der Strategie ohne Impfpflicht finden.
Es ist zu hoffen, dass diese Einsichten noch im laufenden Jahr das Handeln der politisch Verantwortlichen bestimmen. Ansonsten finden wir uns schon Anfang 2022 in einer Lage wieder, in der die Befolgung der geltenden Grundsätze, Vorschriften oder Anweisungen aus ärztlicher Sicht schwer verantwortbar sein dürfte und nicht einmal mit viel Fantasie in Einklang mit den ethischen oder medizinischen Standards der ärztlichen Berufsausübung zu bringen wäre.