Corona-Hotspot Sachsen Wenn die Toten warten müssen

Die Infektionszahlen in Sachsen sind beängstigend. Längst sind nicht nur Kliniken, sondern auch Krematorien und Standesämter völlig überlastet. Ein Besuch bei den Toten – und den Lebenden, die sich um sie kümmern.
Krematorium in Görlitz: »Wer Corona nur für eine Grippe hält, der soll hier mal eine Woche arbeiten«

Krematorium in Görlitz: »Wer Corona nur für eine Grippe hält, der soll hier mal eine Woche arbeiten«

Foto: Sven Döring / DER SPIEGEL

Der Einäscherer hastet aus dem Büro des Krematoriums in den Vorraum. In der Ecke steht ein Sarg, daneben ein Wagen, mit dem man die Särge aus den Leichenwagen hebt. Er drückt der Bestatterin das Telefon in die Hand. Die hält es sich ans Ohr, dann runzelt sie die Stirn und schnauft. »Für sowas habe ich nun wirklich keine Zeit«, sagt sie, »Tschüss.« Sie nickt in die Runde, öffnet die Stahltür. »Ich muss weiter.« Das Telefon klingelt wieder. Der Einäscherer schüttelt den Kopf, brummt. »Ich schalte es gleich aus.« 

Die Mitarbeiter des Krematoriums in Görlitz schieben Extraschichten, sagt die Leiterin Evelin Mühle. »Von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends arbeiten wir hier, sonst würden sich die Särge stapeln.« Derzeit seien alle Kühlräume besetzt, in der Ecke stehen sechs weitere Särge. Auf einem Holzsarg steht in schwarzen Großbuchstaben »COVID 19«. Nur einer von sechs? Mühle schüttelt den Kopf. »Es sind viele Corona-Fälle. Es ist dramatisch.« Im November würden sie normalerweise um die 130 Verstorbene einäschern. Dieses Jahr seien es etwa 100 mehr gewesen. »Und Mitte Dezember lagen wir auch schon wieder bei über 200 Einäscherungen.«

Die Krematorien arbeiten im Akkord

Vielleicht müsse sie bald einen weiteren Kühlraum herrichten, sagt Mühle. Die meisten Toten kämen ja erst noch. "Gerade infizieren sich so viele wie nie. Die kommen dann im Januar zu uns. Wenn ich daran denke, wird mir angst und bange.« Täglich kämen mehr, als Mühle und ihr Team im Regelbetrieb einäschern könnten. Gestern aber hätten ihre Männer gut was geschafft, 18 Särge verbrannt, nur 13 neue seien dazugekommen. »Wir sind wirklich froh, wenn wir mal an einem Tag mehr schaffen als kommen«, sagt sie. »Das ist ein Wettlauf mit den Toten. Wer Corona nur für eine Grippe hält, der soll hier mal eine Woche arbeiten.«

In kaum einer Region sterben derzeit, auf die Bevölkerungszahl hochgerechnet, so viele Menschen an Corona wie im Landkreis Görlitz. In den vergangenen sieben Tagen haben sich mehr als 662 Menschen mit Corona infiziert. Nur in Zwickau und Bautzen, beide ebenfalls in Sachsen, waren es noch mehr. Die Intensivstationen laufen über, es gibt nicht mehr genug Beatmungsgeräte und Pflegekräfte, Patienten müssen verlegt werden. Nun wird selbst der Platz für die Gestorbenen knapp. Krankenhäuser müssen die Kühlhallen erweitern, die Krematorien arbeiten im Akkord. Die Region weiß kaum noch, wohin mit den ganzen Toten.

Der Einäscherer steht hinter dem Sarg auf dem Wagen vor dem Ofen, legt einen Hebel um, drückt dann einen roten Knopf. Eine Klappe hebt sich, Flammen lodern in dem Loch. Der Sarg fährt hinein, die Klappe geht zu. Vier weitere Särge liegen aufgereiht auf dem Boden. Der Mann geht an ihnen vorbei in den Nebenraum und zieht den nächsten Sarg heran. »Heute sind wir vier im Vorsprung«, sagt er. In einer Stunde wird der Mensch im ersten Sarg zu Asche verbrannt sein. Dann wird der Einäscherer wieder den Knopf drücken.

Sonderschichten im Standesamt

Vor allem über die Stadt Zittau im östlichsten Osten von Sachsen, direkt an der Grenze zu Polen und Tschechien, ist in den letzten Tagen viel berichtet worden. Dem Ärztlichen Direktor des dortigen Klinikums, Mathias Mengel, rutschte in einer Videoschalte vor rund 100 Zuhörern das Wort »Triage« über die Lippen. Zwar korrigierte die Pressesprecherin die Aussage am nächsten Tag. Die Ärzte hätten noch nicht entscheiden müssen, welchen Patienten sie an die Beatmungsgeräte anschließen – und vor allem – welche nicht. Aber man könne sich nicht mehr selbst um alle Patienten kümmern und müsse manche in andere Kliniken bringen. Und da müsse man eben überlegen, wer den anstrengenden Transport verkraften könne.

Die Lage ist ernst. So ernst, dass die Mitarbeiter des Standesamtes in Zittau nun sogar an Weihnachten arbeiten müssen – um Sterbeurkunden auszustellen. Das städtische Krematorium hatte sie darum gebeten. Es braucht die Urkunden, um die Toten einäschern zu dürfen. Es braucht sie, um Platz schaffen zu können.

Die Leiterin Petra Wießner ist 63 Jahre alt und hat schon ihre Lehre im Standesamt Zittau gemacht. »Aber das, was wir gerade durchmachen – eine solche Haverie an Toten, habe ich in 44 Jahren nicht erlebt«, sagt sie. Sie müssten nun Überstunden machen, um das alles zu bewältigen. Um zwölf Uhr den Stift niederlegen – das gehe nun nicht mehr. An Heiligabend werde sie für drei Stunden ins Büro kommen, am 2. Weihnachtstag eine Kollegin. »Wir würden auch gern Weihnachten feiern, aber dann würde uns das Krematorium überlaufen.«  

In den vergangenen Wochen falle sie häufiger abends völlig geschafft ins Bett. Neulich sogar habe sie ein Gedicht geschrieben, um das ganze Drama zu verarbeiten. »Man kann das nicht komplett von sich fernhalten. Vor allem, wenn ich da jemanden liegen habe, der in den Fünfzigerjahren geboren ist – der ist ja so alt wie ich.« 

Jedes Blatt ist ein Todesfall

Um halb zwei am Freitagmittag ist die schwere Holztür des Standesamtes abgeschlossen. Eine Mitarbeiterin öffnet, nur noch an ihrem Platz brennt die Schreibtischlampe. In der Ecke stehen Ficus-Bäume in Töpfen, daneben Vasen mit weißen und rosafarbenen Rosen, auf den Schreibtischen Ablagefächer, ein paar Bücher und Mappen, alles fein und säuberlich. Keine Aktenberge, keine hektische Betriebsamkeit. Woran man denn nun merke, dass derzeit so viele Menschen sterben? Die Mitarbeiterin zeigt auf den Schreibtisch, darauf ein dicker Leitz-Ordner, der Deckel hakt kaum noch ein. Jedes Blatt darin steckt in einer Klarsichthülle. Jedes Blatt ist ein Todesfall.

Statt unter dem Sargdeckel liegen die Toten hier unter einem Pappdeckel. Die Mitarbeiterin öffnet einen Schrank voll mit Ordnern. Sie zeigt auf einen aus dem Jahr 2017 mit der Aufschrift: »August, September, Oktober«. »Normalerweise brauchen wir nur einen Ordner für zwei, manchmal sogar drei Monate.« In den Ordner vom Dezember passt schon am 18. Tag kaum noch ein Blatt Papier.

Es gibt nicht viele, die in Zittau aktuell mit Journalisten über das Sterben sprechen möchten. Die Pressesprecherin der Klinik blockt alle Anfragen ab. Auch das städtische Krematorium äußert sich nicht. Der Stadtsprecher sagt, kurzfristig sei das nicht möglich. Vor Ort schütteln die Mitarbeiter den Kopf. Sie dürften mit der Presse nicht sprechen.

Auch manche Bestatter sagen, ihr Chef habe es ihnen verboten. Einen trifft man an, als er gerade aus der Tür kommt, einen Stapel Akten unter den Arm geklemmt. Ob er kurz Zeit habe? Er schüttelt den Kopf. »Zeit habe ich gerade gar keine«, sagt der Mann und klopft auf die Akten. »Vier weitere Tote. Ich muss zum Standesamt, danach zum Krematorium.« Er erzählt, dass es ganz schön viel sei gerade. Aber dass man da nun halt durch müsse. Man habe ja keine andere Wahl. Er lasse das nicht zu sehr an sich ran. Er versuche es zumindest. Schon klopft er wieder auf die Akten. »Aber jetzt muss ich wirklich weiter.«

Im Standesamt ist das Licht im Büro von Leiterin Wießner aus. Der Schreibtisch ist wie der ihrer Kollegen aufgeräumt, ein Adventskranz steht in der Ecke. Vor der Tastatur liegt ein Stapel Papiere – so, als hätte sie ihn sich schon einmal zurechtgelegt. Es sind weitere Todesfälle. Mit ihnen wird sie die Woche am Montag beginnen.

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