
Rechte Hochburgen Halt! Sie werden hier noch gebraucht!


Abhauen und zu Gleichgesinnten gehen? Eine verständliche Idee - und trotzdem keine gute
Foto: iStockphoto/ Getty ImagesNicht ausgeschlossen, dass Deutschland eines Tages so aussieht: Die AfD regiert die dramatisch entvölkerten Bundesländer Sachsen, Brandenburg und Thüringen, nachdem die Partei dort auf ganz legalem Weg bei Wahlen 100-Prozent-Ergebnisse eingefahren hat. Grünen-Wähler leben nur noch in von Grünen-Politikern regierten Großstädten. Und für passionierte Sozialdemokraten gibt es eine Schutzzone in ihrem letzten großen Rückzugsgebiet: Nordhessen.
Was dieser Unfug soll? Das ist die konsequent zu Ende gedachte Version dessen, was der Publizist Sergej Lochthofen neulich über Gera in Thüringen gesagt hat. Dort stellt die AfD nach den Kommunalwahlen künftig die größte Ratsfraktion - weshalb Lochthofen junge Leute dazu aufrief, diese "Loser-Stadt" schleunigst zu verlassen: "Was wollen Sie in einer Stadt, die so regiert wird und die sich so weiterentwickelt?"
Netflix und das Demokratie-Dilemma
Der 65-Jährige führte diesen Gedanken nicht detailliert aus, es klang aber ungefähr so: Sollen die Anhänger dieser rechten Partei doch alleine weitermachen, wir Liberalen schlagen uns damit jedenfalls nicht länger herum. Und hauen lieber ab. Wie aber sähe eine solche Gesellschaft der Gleichgesinnten aus - Dörfer, Städte und ganze Regionen also, in denen nur noch Leute mit ähnlichen Überzeugungen leben?
Lochthofens Aufruf mag ein seltsam anmutender Einzelfall sein, der Gedanke dahinter ist es womöglich nicht. Das zeigt ein Vorgang aus den USA: Dort erwägen Netflix, AMC, Disney und Warner einen Rückzug ihrer Filmproduktionen aus Georgia, weil in dem Bundesstaat ein rigides Anti-Abtreibungsgesetz eingeführt werden soll. Die Rechte vieler Mitarbeiterinnen könnten künftig stark eingeschränkt sein, sagte Netflix-Programmchef Ted Sarandos zur Begründung.

Klare Ansage: Netflix-Programmchef Ted Sarandos (Ende Mai in Los Angeles)
Foto: Richard Shotwell/Invision/APEin starkes Statement, könnte man meinen, es gibt jedoch einen Haken: Die Frauen in Georgia hätten nichts von dieser feministischen Offensive. Das Gesetz bliebe, viele Arbeitsplätze nicht - Mitarbeiterinnen aus Georgia müssten also den Bundesstaat verlassen oder sich einen neuen Job suchen. Und falls die ultrakonservativen Politiker in Georgia angesichts dieses Szenarios ihre Pläne stoppen? Dann hätten Disney und Co. faktisch Politik gemacht, die manch liberaler Zeitgenosse bejubeln mag. Aber die Menschen in Georgia haben diese konservative Regierung nun mal gewählt - und seit wann ist es begrüßenswert, wenn Großkonzerne demokratisch legitimierte Entscheider erpressen?
Gera und Georgia liegen weit voneinander entfernt, die Fälle lassen sich inhaltlich kaum miteinander vergleichen. Aufschlussreicher als eine etwaige inhaltliche Parallele ist etwas anderes, das beide Vorgänge miteinander verbindet: die Idee, in einer freiheitlichen Demokratie nicht mehr mit Argumenten für Überzeugungen einzustehen. Sondern zu gehen, wenn es ungemütlich wird.
Das Ergebnis wären im schlimmsten Fall isolierte, diskursfreie Räume - denn wo in allen Fragen Einigkeit herrscht, braucht es keine Argumente mehr.
Auch das ist übrigens kein dystopischer Unfug, sondern längst Realität. In sozialen Medien etwa scheinen sich viele Menschen kaum noch mit Andersdenkenden konstruktiv auszutauschen. Ähnlich sieht es in deutschen Nachbarschaften aus, wie Auswertungen der jüngsten Wahlen erschreckend eindrucksvoll belegen: In wohlhabenden Großstadtvierteln bleiben kosmopolitische Liberale unter sich, Migranten leben in regelrechten Stadtrand-Gettos, Dörfer sind Horte konservativer Traditionalisten.

Bitte nicht: Koffer packen und das Weite suchen
Foto: Westend61/ Getty ImagesMan hätte eben am liebsten, dass alle so ticken wie man selbst - weil es anstrengend ist, Widerspruch auszuhalten, die eigene Meinung zu überdenken und bisweilen auch zu revidieren. Wer deshalb etwa Kollegen meidet oder Freundschaften beendet, verkleinert aber nicht nur den eigenen Bekanntenkreis und den politischen Horizont, sondern auch den gesellschaftlichen Resonanzraum: Wie soll Demokratie funktionieren, wenn selbst die Demokraten das Austauschen von Argumenten einstellen?
Die Debatte ist und bleibt der Königsweg in der Demokratie. Das ist oft zermürbend und langwierig, anders geht es aber nicht. Wem etwa Menschlichkeit, Gleichberechtigung und Toleranz am Herzen liegen, der sollte in Diskussionen dafür werben, sich in Vereinen engagieren, Mitstreiter gewinnen. Ja, das kostet viel Kraft und Geduld - aber das ist der Preis für eine gewinnbringende Debattenkultur.
Ein weiteres Jamel verhindern
Ein Wohnortwechsel jedenfalls ist der falsche Weg. Es wäre ein merkwürdiges Signal, den Rechten im Kampf gegen den Rechtsruck ganze Städte zu überlassen. Wie fatal die Folgen sein könnten, zeigt sich etwa im Dorf Jamel in Mecklenburg: In dem als "Nazidorf" verschrienen Ort leisten nur noch Horst und Birgit Lohmeyer Widerstand gegen die rechtsextreme Mehrheit - obwohl das Ehepaar regelmäßig mit Anfeindungen konfrontiert ist.
Sollten die Lohmeyers irgendwann fliehen, wäre das durchaus nachvollziehbar - denn selbstverständlich muss sich niemand der Gefahr aussetzen, von Extremisten attackiert zu werden. Für alle anderen, nicht nur in Gera und Georgia, gilt: Bitte nicht weggehen! Die Demokratie braucht Sie noch.