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Deutsche in afrikanischen Patenfamilien Jenseits von Einsamkeit

Was steckt dahinter, wenn sich Deutsche von Familien in Afrika adoptieren lassen? Dokumentarfilmer haben ein ungewöhnliches Projekt begleitet: Eine Rentnerin, ein Schauspieler und eine Studentin ziehen auf der Suche nach familiärer Wärme nach Ghana. Dann kommt der Kultur-Clash.
Von Simone Utler

Hamburg - Gisela ist deutschlandmüde. Sie fühlt sich überflüssig, allein, empfindet sich als Last für jüngere Generationen. Die 70-Jährige lebt in einem kleinen Ort in Mecklenburg, ihr Mann ist vor einem Jahr gestorben, nun überlegt die Rentnerin, wie es für sie weitergehen soll. Bleibt sie in dem Ort, obwohl sie sich dort fremd fühlt? Zieht sie zurück in ihre Heimat Baden-Württemberg? Oder geht sie vielleicht ins Ausland?

Schon als junge Frau habe sie davon geträumt, für den Entwicklungsdienst zu arbeiten, sagt Gisela. Doch dann habe sie ihren Mann kennengelernt. Sie haben geheiratet und waren mehr als 40 Jahre zusammen. "Ich habe immer gesagt, ich möchte zu armen Menschen gehen, die aber strahlen können", sagt die Rentnerin mit den kurzen weißen Haaren und der Brille. Gerade jetzt im Alter hat sich dieser Wunsch deutlich verstärkt, vielleicht auch aufgrund einer etwas verklärten Sichtweise auf Afrika, einen ihr noch unbekannten Kontinent: "Bei Naturvölkern ist der Alte der Weise." Zu den Alten schaue man auf. Sie hingegen sei nur noch auf dem Papier Mutter, beklagt sich Gisela: "Sonst bin ich die Olsche, die auch abtreten kann. Bald gibt's mal Abwrackprämie für uns."

Giselas Schwester hört im Radio von dem Projekt "Adopted" : Afrikanische Familien adoptieren ungebundene erwachsene Europäer, nehmen sie sozusagen als Patenkinder. Die Adoptierten können dann nach Ghana reisen und mit ihrer neuen Familie leben. Gisela bewirbt sich.

"Adopted" war erst ein Kunstprojekt, dann wurde es Realität und schließlich ein Dokumentarfilm, der schon bei mehreren Festivals gezeigt wurde und ab 1. März auf Kinotour  geht. Die Künstlerin Gudrun F. Widlok, deren Werke von Film bis Performance reichen, hatte sich 2001 im spanischen Cuenca bei einer Ausstellung als europäische Beauftragte von "Adopted" ausgegeben und in einem als Büro gestalteten Raum nach imaginären Kandidaten gesucht. Der Ansturm war groß, in Europa ebenso wie bei späteren Ausstellungen in Burkina Faso (2003) und Ghana (2005). "Das Ganze wurde nach und nach real, weil die Teilnehmer es einforderten", so Widlok, die daraufhin wirklich Familien und Adoptionswillige zusammenbrachte.

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Als Patenkind in Afrika: Ein Laptop, zwei Fahrräder, keine Familie

Foto: Gudrun F. Widlok

Filmemacher Rouven Rech hörte von dem Projekt im Radio und entwickelte die Idee für einen Dokumentarfilm. Zusammen mit einem Kameramann und einem Tontechniker begleiteten Widlok und Rech drei Adoptionswillige über mehrere Monate hinweg in Deutschland und Ghana. Gisela, Thelma und Ludger wurden für den Film ausgewählt, beworben hatten sich rund 200 Menschen. "Wie viele insgesamt nach Ghana gegangen sind, können wir nicht sagen", so Rech. "Wir vermitteln den ersten Kontakt - was die Menschen dann daraus machen, bleibt ihnen überlassen."

Auch Thelma ist auf der Suche. Die Studentin ist Anfang 20, stammt aus Island und lebt in Berlin, als sie von "Adopted" erfährt. "Es ist eine schöne Idee, von einer afrikanischen Familie adoptiert zu werden", sagt die junge Frau in dem Film. Auf der Suche nach anderen Kulturen war ihr erster Stopp Berlin, nun soll Ghana kommen, dann vielleicht weitere Länder: "Das Faszinierende ist für mich, dass Menschen überall gleich sind. Wir haben alle 37 Grad in unseren Adern."

"Menschen in Afrika nicht nur wie Hilfsempfänger behandeln"

Die Bewerber hatten keinen Einfluss auf die Familien. "In unserem Fall sind die Reichen die Bedürftigen, denn sie suchen nach Nähe, nach einer Familie", sagt Gudrun Widlok. Da sei es nur logisch, dass die, die helfen wollen, auch aussuchen dürfen.

Die Auswahl wurde in Ghanas Hauptstadt Accra getroffen. Ghana bot sich an: Das Land, das 1957 seine Unabhängigkeit erhielt, ist politisch stabil, es wird Englisch gesprochen, und die Menschen haben die typisch westafrikanische Eigenschaft, schnell auf Fremde zuzugehen. Der Film zeigt, wie Dutzende Menschen im Goethe-Institut in Accra vor Fotos stehen, die in Bilderrahmen an den weißen Wänden hängen. Unter jedem Porträt stehen die wichtigsten Angaben zur Person. Ganze Familien, überwiegend aus Ghanas Mittelschicht, beraten sich und kleben schließlich einen kleinen weißen Zettel, auf dem "Adopted" steht, unter ihren Wunschkandidaten.

Das Lehrerehepaar Wendy und Maxwell Oppong und seine drei Kinder entscheiden sich für Gisela - als Gesellschaft für Wendys verwitweten Vater. Die Ghanaer treibt in erster Linie Neugier an, aber auch Interesse an kulturellem Austausch. "Es ist eine schöne Idee, jemanden aus einer anderen Kultur zu adoptieren", sagt Wendy Oppong dem Filmteam. Ihr Mann fügt hinzu, einen Menschen zu adoptieren, bedeute auch, demjenigen etwas beizubringen: "So können sie, auch wenn sie zurückgehen, etwas von Ghanas Kultur mitnehmen."

Die Afrikaner hätten genau gewusst, dass sie die Türen für einen Menschen öffneten, dass es nicht darum ging, nach Deutschland zu kommen. "Man darf Menschen in Afrika nicht nur wie Hilfsempfänger behandeln", sagt Rech. "Ihre Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft sind oft sehr groß."

Für Afrikaner ist das in Deutschland übliche System der Seniorenheime befremdlich. "Wo sind die Kinder?", fragt Gastvater Maxwell Oppong. "Die Eltern haben nicht dem Staat das Leben geschenkt, sondern den Kindern." Man dürfe nicht zulassen, dass Gisela einsam sei, fügt seine Frau Wendy hinzu: "Das einzige, was wir tun können, ist, sie bei uns leben zu lassen."

Ein Laptop, zwei Fahrräder, aber keine Familie

Doch der Kultur-Clash bleibt nicht aus. Gisela ist befremdet, wie die Familie ihr Kind erzieht, wenn Christen auf der Straße beten und wenn sie Wasser aus einer Plastiktüte trinken soll. Thelma flüchtet aus einem Gottesdienst, weil es zu laut und zu grell ist, sie vermisst ihre Privatsphäre und kann mit Tischgebeten wenig anfangen.

Ludger versucht, dem Sohn seiner Patenfamilie zu erklären, warum er in Ghana ist. Der große rotblonde Mann mit dem Bart hockt in einer Ecke seines kleinen Zimmers mit den blauen Wänden, der afrikanische Junge sitzt auf dem Bett und schwärmt von den USA, von einem Leben als Pilot, von Fahrrädern und Laptops. Regen prasselt auf das Haus, trüb scheint ein wenig Licht durch das Fenster. In Deutschland habe er Geld gehabt, einen Job, einen Laptop und sogar zwei Fahrräder, erzählt Ludger. "Aber ich habe keine Familie. Darum bin ich nach Ghana gekommen", so der 36-Jährige, der als Schauspieler arbeitete, zwischen Berlin und Bremen pendelte und dessen Eltern sehr wohl noch leben. "Verstehst du das?" fragt Ludger. Die Antwort: ein verwirrter Blick.

Gudrun Widlok weiß aus eigener Erfahrung: Am Anfang ist in Afrika vieles ungewöhnlich, doch je länger man da ist, umso mehr sieht man die Gemeinsamkeiten. "Am Ende des Tages wollen wir alle eins: In aller Ruhe und Frieden mit unserer Familie über den Tag sprechen, also sozusagen beim Feierabendbierchen zusammensitzen. Der Weg dahin ist kulturell unterschiedlich."

"Es soll eine Utopie sein"

Die drei "Adopted"-Protagonisten versuchen Unsicherheiten wegzulächeln, tragen landestypische Kleider, probieren einheimisches Essen, kneten Teig, tragen Kinder oder harken Felder. Und doch stoßen sie immer wieder an ihre Grenzen. Ludger und Thelma erkennen, dass sie eine Beschäftigung brauchen, dass Familie alleine nicht zum Glücklichsein reicht. Und so öffnet Ludger den Laden "Golden Joy Fountain", in dem er Wasser verkauft.

Vor allem Gisela, die pensionierte Lehrerin, tut sich schwer - und das nicht nur wegen des Plumpsklos, das außerhalb des Hauses steht. Ob es am Alter liegt, bleibt in dem Film offen. Vielleicht steht ihr auch eine Charaktereigenschaft im Weg, die sie bereits vor ihrer Abreise erwähnte: Das Deutsche an ihr sei "dieser sture pingelige Beamte", den sie in sich trage.

Wer bleibt, wer nach Deutschland zurückkommt, wer noch Kontakt hat, wird in dem Film nur zum Teil aufgelöst. "Es soll eine Utopie sein", erklärt Widlok. Jeder Zuschauer solle die Möglichkeit haben, die Entwicklungen für sich selbst weiterzuspinnen. Sie selbst ist nach den Dreharbeiten nach Ghana gezogen. Seit anderthalb Jahren lebt sie größtenteils in Accra. "Es gibt Momente, da entscheidet man sich für die Stadt, in er man sich gerade wohlfühlt. Da ist ziemlich egal, in welchem Land sie liegt", erklärt Widlok ihre Wahl.

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