Wahlverhalten »Die SPD hat viele enttäuscht«

SPIEGEL: Herr Aver, früher wählten viele türkeistämmige Deutsche traditionell SPD. Gilt das noch?
Aver: Nach unseren repräsentativen Befragungen löst sich diese Bindung auf. Früher hatten wir in der deutschtürkischen Community 60 bis 70 Prozent Zustimmung für die SPD. Jetzt gehe ich davon aus, dass gut ein Drittel SPD wählen werden, 15 bis 20 Prozent die CDU, Linke um die 15 Prozent, Grüne 7. Die FDP spielt mit 3, 4 Prozent kaum eine Rolle. Die AfD auch nicht.
SPIEGEL: Woher dieser Wandel?
Aver: Die Diversifizierung zeigt den Grad gesellschaftlicher Integration an. Viele Deutschtürken sind heute akademisch ausgebildet, sie sind sozial mobiler als die Generation vor ihnen, die meist der klassischen Arbeiterschaft angehörte. Die SPD hat aber auch viele enttäuscht, zum Beispiel mit der Debatte über die doppelte Staatsbürgerschaft. Auch Hartz IV war unter Deutschtürken ein Riesenthema. Auf der anderen Seite hat die CDU eine liberale Migrations- und Integrationspolitik betrieben und versucht, sich gegenüber muslimischen Migranten zu öffnen, indem man gleiche konservative Werte, wie etwa die Familie, betont. Das findet Zuspruch unter konservativen türkeistämmigen Menschen.

Grün war die Hoffnung
Im Frühjahr befanden sich die Grünen auf einem Höhenflug, Umfragen sahen Annalena Baerbock bereits im Kanzleramt. Dann stürzten die Zustimmungswerte ab, die Partei verspielte eine historische Chance. Welche Fehler machte die Kandidatin? Und wie grün ist das Land tatsächlich?
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SPIEGEL: Es heißt, Armin Laschet habe als früherer Integrationsminister in Nordrhein-Westfalen bei vielen Deutschtürken einen Stein im Brett.
Aver: Stimmt. Aber ob sie ihn sich deshalb als Kanzler wünschen? Für viele sind Themen wie Bildungsgerechtigkeit, Arbeitslosigkeit oder Rassismus wichtig. Oder die Rolle der Religionen: Wie wollen wir in einer vielfältigen Gesellschaft leben? Themen, die im Wahlkampf der etablierten Parteien kaum eine Rolle spielen. Vor allem konservative enttäuschte Deutschtürken wenden ihnen deshalb den Rücken zu. Für die ist eine Splitterpartei wie »Team Todenhöfer – Die Gerechtigkeitspartei« gerade ganz interessant.
SPIEGEL: 893.000 Deutschtürken sind wahlberechtigt. Bei der Wahlbeteiligung lagen sie zuletzt 12 Prozentpunkte unter dem Schnitt. Und diesmal?
Aver: Ich denke, dass die Wahlbeteiligung steigen wird, auch weil innerhalb der deutschtürkischen Community die Sensibilität dafür wächst, sich politisch zu beteiligen. Man sieht das an den Diskussionen in den sozialen Medien. Da geht es teilweise sehr kontrovers zu. Ich finde, das ist eine gute Nachricht.