Entschädigung Im Zweifel gegen die Opfer

Jüdische Ghetto-Arbeiter in Lodz (um 1941): "Erschreckende Unkenntnis"
Foto: Wiener LibraryDer Bauarbeiter Abraham Leibenson, geboren 1925 im litauischen Radviliskis, Häftling in den Konzentrationslagern Stutthof und Dachau, einziger Überlebender seiner Familie, wohnhaft in der Stadt Bat Jam südlich von Tel Aviv, hatte ein krankes Herz und wenig Geld.
Im Sommer 2002 hörte er von einem Gesetz, das im deutschen Parlament verabschiedet worden sei. Es versprach Juden, die in einem Nazi-Ghetto einer halbwegs geregelten Arbeit nachgegangen waren, eine kleine Rente. Leibenson hatte im Ghetto der Stadt Siauliai verschiedene Arbeiten verrichtet, in der Landwirtschaft, im Schienenbau und auf dem nahegelegenen Flugplatz.
Er stellte einen Rentenantrag bei der zuständigen Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinprovinz in Düsseldorf - und kassierte eine Ablehnung. Er klagte vor dem Sozialgericht Düsseldorf - und verlor. Er ging vor dem Landessozialgericht in Essen in Berufung - und unterlag erneut. Schließlich legte er Revision beim Bundessozialgericht in Kassel ein. Das war im vergangenen Jahr.
Vor wenigen Wochen, am 18. Februar 2010, starb Abraham Leibenson im Alter von 84 Jahren, ohne einen Cent aus der deutschen Rentenkasse bekommen zu haben. "Er war zutiefst enttäuscht", sagt seine Witwe Ettel Leibenson, "aber wahrscheinlich ist das die Politik: So lange zu warten, bis alle gestorben sind, damit es möglichst wenig kostet."
Unbürokratisch und zeitnah sollte das "Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto" eine Lücke bei der Wiedergutmachung schließen. Das war damals der erklärte Wunsch der Redner im Bundestag. Das Gegenteil ist eingetreten. Von den etwa 70.000 Anträgen lehnten die Rentenversicherungen mehr als 90 Prozent ab. Eine israelische Regierungsdelegation mahnte die Vertreter des Sozialministeriums in Berlin: "Jeden Tag sterben 30 bis 35 Überlebende." Jeder zweite Antragsteller lebt in Israel.

Renten für Ghetto-Arbeit: "Hart dafür gearbeitet"
Foto: DER SPIEGELSchuld an der hohen Ablehnungsquote sind vor allem Versicherungsbürokraten und Sozialrichter aus Nordrhein-Westfalen. Die dortigen Behörden sind für die Kläger aus Israel zuständig. Im Zweifel legten sie das Gesetz gegen die Überlebenden aus. Obwohl in dem Regelwerk lediglich von "Entgelt" und nicht von Gehalt die Rede ist, lehnten sie Antragsteller ab, die für ihre Arbeit zum Beispiel Lebensmittelmarken erhielten.
Außerdem bezweifelten Richter und Versicherer, dass die Ghetto-Bewohner "aus eigenem Willensentschluss" zur Arbeit gingen, wie es das Gesetz definiert. Viele Antragsteller wurden als Zwangsarbeiter eingestuft, obwohl die Bundestagsabgeordneten das Gesetz ganz bewusst von der Zwangsarbeiter-Entschädigung abgegrenzt hatten.
"Erschreckende Unkenntnis"
Historiker wurden bei den Entscheidungen anfangs nicht zu Rate gezogen. Lieber verließen sich Versicherungssachbearbeiter und Richter auf oberflächliche Nachschlagewerke wie das Internetlexikon Wikipedia. In vielen Fällen behaupteten sie, es habe in der betreffenden Stadt gar kein Ghetto gegeben. Dabei stützten sie sich auf eine Datenbank des Karl-Ernst-Osthaus-Museums, in der nur gut 400 osteuropäische Ghettos aufgezählt werden. Der russische Historiker Ilja Altmann kommt allein für das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion auf rund 800 Ghettos.
Die Einlassungen der Rentenversicherungsträger und Sozialrichter seien "in den meisten Fällen sehr pauschal, schlecht oder gar nicht belegt", schreibt Stephan Lehnstaedt vom Deutschen Historischen Institut Warschau in einem Gutachten: Sie "zeugen von einem nicht qualifizierten Umgang mit wissenschaftlicher Fachliteratur und historischen Quellen, zuweilen sogar von einer erschreckenden Unkenntnis".
Weil die meisten Kläger hochbetagt sind und im Ausland leben, wurde ihre Lebensgeschichte lange Zeit nur mit Fragebogen überprüft. Der Richter Jan-Robert von Renesse, 43, vom Landessozialgericht in Essen hielt diese Art der Befragung der Überlebenden für unangemessen und reiste nach Israel, um sich persönlich mit ihnen zu treffen. Es war das erste Mal, dass ein deutscher Richter auf israelischem Boden eine offizielle Verhandlung abhielt. Viele Kläger bekamen daraufhin Recht.
Die Neonazis loben die deutschen Richter
Etliche Kollegen von Renesse reagierten pikiert, als ihre bisherige Arbeit in Misskredit geriet. Doch auch die Bochumer Sozialwissenschaftlerin Kristin Platt stellte auf richterliche Anfrage fest, dass ein Fragebogen "als Instrument zur Sachverhaltsaufklärung ungeeignet" sei. Derartige Anfragen wurden Renesse von seinem Senatsvorsitzenden für die Zukunft untersagt.
Renesse bat auch den Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, ihm bei der Analyse der Aussagen der Ghetto-Überlebenden zu beraten. Der Holocaust-Forscher merkte an, dass die ablehnenden Urteile bereits von rechtsradikalen Publikationen ausgeschlachtet würden. Die Neonazis loben die deutschen Richter dafür, dass sie die jüdischen Überlebenden der "Lüge" überführt hätten.
Der Sozialrichter beauftragte zudem zahlreiche Historiker, das Binnenleben einzelner Ghettos in den Archiven Osteuropas zu recherchieren. Rentenversicherer und Sozialrichter seien fälschlicherweise davon ausgegangen, dass die Geschichte der Judenverfolgung bereits ausreichend erforscht wurde, schrieb der Hamburger Geschichtsprofessor Frank Golczewski: "Wie in der Kriminologie durch neuerdings mögliche DNA-Analysen früher unlösbare Fälle aufgeklärt werden können, so bewirkt auch die Erschließung neuer Quellen eine von früheren Befunden abweichende Beurteilung historischer Sachverhalte."
Die Anhörungen und Gutachten führten dazu, dass das Bundessozialgericht im Juni vergangenen Jahres die bis dahin übliche Rechtssprechung kassierte. Es entschied, auch eine Bezahlung mit Lebensmitteln oder Lebensmittelkarten sei als "Entgelt" zu akzeptieren. Eine enge Anwendung deutschen Rentenrechts werde den tatsächlichen Lebensverhältnissen in den Ghettos nicht gerecht, urteilten die obersten Sozialrichter.
"Die haben wohl eine Null vergessen"
Doch was bedeutet das für jene Antragsteller, die bis kurz vor dem Urteil abgelehnt wurden? Das nordrhein-westfälische Arbeitsministerium forderte die Rentenversicherung Rheinland (ehemals LVA Rheinprovinz) bereits am 18. August 2009 in einem fünfseitigen Schreiben auf, diese Frage zügig zu klären. Doch mittlerweile sind mehr als acht Monate seit dem wegweisenden Urteil des Bundessozialgerichts vergangen - und noch immer ist nichts entschieden.
Denn dass das letzte große Kapitel der Holocaust-Entschädigung noch immer nicht beendet ist, liegt auch an der Knausrigkeit der deutschen Regierung. Vor zweieinhalb Jahren machte Bundeskanzlerin Angela Merkel einen halbherzigen Versuch, das Problem zu lösen. Jeder Überlebende sollte eine symbolische Zahlung von 2000 Euro bekommen. Das hätte den Bund etwa 75 Millionen Euro gekostet. "Die haben wohl eine Null vergessen", entfuhr es damals einem Berater im Amt des israelischen Ministerpräsidenten. Denn wer seinen Rentenantrag bewilligt bekommt, kann mit bis zu 80.000 Euro rechnen.
Außerdem wollte sich Merkel trotz ihrer Freundschaft zu Israel ("Ich verneige mich vor den Überlebenden") lange nicht direkt in die Verfahren einmischen - um die richterliche Unabhängigkeit nicht zu stören. Nach der Kehrtwende des Bundessozialgerichts jedoch wies sie den Finanzminister an, fiskalische Zweifel zurückzustellen. Zwar mussten sich die israelischen Regierungsvertreter bei ihrem Treffen mit dem Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Werner Gatzer, und dem Präsidenten der Deutschen Rentenversicherung Bund, Herbert Rische, in der vergangenen Woche zunächst Klagen über den klammen Haushalt anhören. Dann aber erfuhren die Gäste aus Jerusalem, dass endlich eine Einigung in Aussicht steht.
"Die Überlebenden haben hart für ihre Rente gearbeitet"
In der kommenden Woche wollen Bundesregierung und Rentenversicherungsträger endlich entscheiden, wie sie das Urteil umsetzen. Dabei soll den Überlebenden eine vier Jahre rückwirkende Rentenzahlung angeboten werden. Die Kosten belaufen sich nach internen Berechnungen der Rentenversicherung auf geschätzt 500 Millionen Euro. Ein Vergleich, den verschiedene Sozialrichter schon vor zwei Jahren der Bundesregierung vorschlugen, wäre nicht viel teurer gewesen, wurde aber abgelehnt.
Doch damit ist der Streit keinesfalls beendet. Denn wer fristgerecht zum 30. Juni 2003 einen Antrag gestellt hat, dem steht laut Gesetz eine rückwirkende Rente ab 1997 zu. Das könnte den Staat bis zu zwei Milliarden Euro kosten. Viele Opfervertreter werden ihren Mandanten raten, die Vier-Jahres-Zahlung anzunehmen und danach den vollen Betrag gerichtlich einzuklagen. "Es geht doch nicht um eine Geste des guten Willens", sagt Rechtsanwältin Simona Reppenhagen, "die Überlebenden haben hart für ihre Rente gearbeitet".
Tatsächlich flossen während der NS-Herrschaft Millionen Reichsmark in die deutsche Rentenkasse. Die nationalsozialistischen Behördenvertreter sammelten die Rentenbeiträge der Ghetto-Bewohner gern auch persönlich ein - mit vorgehaltener Waffe.