Debatte über Essener Tafel "Das macht mich wütend"

Lebensmittel-Ausgabestelle der Essener Tafel
Foto: Roland Weihrauch/ dpaSPIEGEL ONLINE: Wie bewerten Sie die Entscheidung der Essener Tafel, vorerst keine Migranten in den Kreis der Neukunden aufzunehmen?
Jochen Brühl: Wir heißen das als Dachverband nicht gut. Für uns ist der Maßstab die Not und nicht die Herkunft. Die Tafel in Essen hat eine unglückliche Entscheidung getroffen. Ich billige das nicht, aber der Tafel daraus einen Vorwurf abzuleiten, ist absurd.
SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie damit?
Brühl: Die Situation in Essen ist speziell, mit 75 Prozent Migranten als Tafel-Kunden. Wir haben mit den Kollegen dort gesprochen, ob sich eine andere Lösung finden lässt. Es wird auch manches verfälscht dargestellt.
SPIEGEL ONLINE: Was denn?
Brühl: Wenn es heißt, in Essen würden keine Lebensmittel mehr an Migranten ausgegeben, kann ich nur sagen, das ist falsch. Natürlich wird dort weiter an Migranten ausgeteilt. Es werden nur vorerst keine neuen Menschen mit Migrationshintergrund in die Kartei aufgenommen. Die Tafeln werden dieses Jahr 25 Jahre alt. Seit Jahrzehnten hat Deutschland ein gravierendes Armutsproblem, das stetig wächst. Dafür scheint sich niemand zu interessieren. Aber wenn eine Tafel, die ganz offensichtlich an ihre Belastungsgrenze stößt, eine solche Entscheidung trifft, wird daraus ein Riesenskandal gemacht. Das macht mich wütend.

Jochen Brühl
Foto: Jörg Carstensen/ picture alliance / dpaSPIEGEL ONLINE: Warum?
Brühl: Weil die Aufregung über die Sache in Essen den eigentlichen Skandal verdeckt: die Verarmung eines Teils unserer Gesellschaft. Wir haben eine Riesenlobby für Dieselfahrzeuge, aber nicht für hilfsbedürftige Menschen. Dieselmotoren sind in unserer Gesellschaft offenbar wichtiger als Armutsbekämpfung.
SPIEGEL ONLINE: Was ist Ihr Vorwurf an Politik und Gesellschaft?
Brühl: Es ist nicht die Aufgabe einer Ehrenamtsorganisation, das Armutsproblem zu lösen. Das muss der Staat tun. Stattdessen wird es auf die Tafel übertragen, eine Organisation von 60.000 Ehrenamtlichen, die Tag für Tag ihr Bestes geben. Aber statt das Armutsproblem zu diskutieren, wird die Entscheidung in Essen skandalisiert.
Video: "Tafel"-Gründerin distanziert sich
SPIEGEL ONLINE: Die Sache in Essen schlägt auch deshalb so hohe Wellen, weil es um hilfsbedürftige Deutsche und hilfsbedürftige Migranten geht - und damit um Diskriminierung.
Brühl: Da wird Armut gegen Armut ausgespielt. Die Tafeln haben zeitweise 280.000 Flüchtlingen geholfen. Plötzlich standen an einzelnen Orten 400 statt 80 Leute und brauchten Lebensmittel. Die Kanzlerin sagte "Wir schaffen das", die Tafeln handeln. Wir haben eine verbindende Wirkung. Wenn den Tafeln wegen der Sache in Essen vorgeworfen wird, wir würden zur Spaltung der Gesellschaft beitragen, werde ich sauer. Von Politikern, die sich jetzt äußern und die Entscheidung der Essener Tafel kritisieren, erwarte ich, dass sie Maßnahmen ergreifen, um Menschen aus der Armut zu holen. Nicht wir Tafeln sind für das Versagen des Sozialstaats verantwortlich. Politik muss endlich etwas tun, damit sich die Situation ändert.
SPIEGEL ONLINE: Was müsste geschehen?
Brühl: Ich kann jedem nur empfehlen, mal zu einer Tafel zu gehen. Da erlebt man, dass viele Menschen sich abgehängt fühlen. Viele unserer Kunden sind Kinder und Jugendliche. Die Zahl der Rentner, die zu Tafeln gehen, hat sich verdoppelt. Wir haben Menschen, die in zweiter oder dritter Generation zur Tafel gehen. Wie können wir Armut bekämpfen? Und wie verhindern wir, dass sie vererbt wird? Auf diese Fragen müssen Politik und Gesellschaft endlich Antworten finden. Wir brauchen in Deutschland einen Armutsbeauftragten, der dafür Sorge trägt, dass die Bekämpfung von Armut endlich eine hohe Priorität erhält.