Essstörung bei Kleinkindern Klaras Kampf

Selbst Kleinkinder können unter Essstörungen leiden - so wie die dreijährige Klara, die nur acht Kilo wiegt. Ihre Mutter rätselt, warum ihre Tochter nicht essen will. Ärzte haben es herausgefunden.
Mädchen bei Tisch (Symbolbild): Kein Brot, kein Obst, nicht mal Schokoladenpudding

Mädchen bei Tisch (Symbolbild): Kein Brot, kein Obst, nicht mal Schokoladenpudding

Foto: Corbis

Klaras Tag beginnt mit einem Kampf. Klara will nicht frühstücken, kein Brot, kein Obst, nicht mal einen Schokoladenpudding. Hohlwangig und blass hockt sie auf ihrem Kinderstuhl und verweigert das Essen. Sie schubst den Teller fort, schreit, weint, brüllt - zu jeder Mahlzeit.

Klara ist drei - und essgestört. "Das kommt gar nicht so selten vor", sagt Sabine Rohde, Oberärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum München Schwabing, Abteilung für Behandlung von Essstörungen im Kindes- und Jugendalter. Seit mehr als 15 Jahren arbeitet sie mit essgestörten Kindern und stellt fest: Die Patienten werden immer jünger. Sie habe einen Fünfjährigen behandelt, der immer wieder auf die Intensivstation musste, weil er das Essen verweigerte, und eine Zweijährige, die nur nachts essen und spielen wollte, nie tagsüber.

Klaras Augen sind wasserblau, wie die ihres Vaters. Ihr ausgemergelter Körper steckt in einem Jeanskleid, gepunkteten Strumpfhosen, darüber trägt sie Wollsocken, selbstgestrickt von ihrer Großmutter. Ihre dünnen Haare hat die Mutter zu einem strohigen Zopf gebunden. Mit einer glatzköpfigen Puppe im Arm marschiert sie durch die lichtdurchflutete Küche im Haus ihrer Großmutter in Cuxhaven. Sie gähnt, wirkt gerädert, als würde sie jeder Schritt auf ihren zarten Beinchen unendliche Mühe kosten.

Klara wiegt bei einer Größe von 95 Zentimetern acht Kilo und exakt 510 Gramm, gesunde Dreijährige wiegen bei der gleichen Größe zwischen zwölf und 16 Kilo. Ihre Mutter hat sie erst am Morgen gewogen, eine Prozedur, der sich Klara apathisch hingibt, ohne zu rebellieren. "Manchmal glaube ich, ihr fehlt schon allein dafür die Kraft, aber wenn sie essen soll, dreht sie wieder voll auf", sagt ihre Mutter, 44 Jahre alt, alleinerziehend.

Ihre Tochter war ein Wunschkind. Für ihre Mutter war es vermutlich die letzte Gelegenheit, ein Kind zu bekommen. Die Verbindung zum Vater, die äußeren Umstände - alles zweitrangig. Hauptsache ein Kind. Nun sitzt die 44-Jährige am Esstisch in Cuxhaven, die Augen müde, der Hals faltig. Die Angst, ihre Tochter könne verhungern, zermürbt sie, raubt ihr den Schlaf.

Klaras Verfall sei nicht schleichend gekommen, sagt die Mutter, sondern mit voller Wucht. Ihr komme es vor, als habe ihre Tochter von heute auf morgen aufgehört zu essen. Innerhalb weniger Wochen sei sie nur noch Haut und Knochen gewesen. Seither sei jeder Bissen ein Kampf.

Jedes zehnte Kind entwickelt eine Essstörung

Zuerst habe der Arzt gesagt, das sei nur eine Phase, völlig normal. Jedes vierte Kind hat in den ersten drei Jahren vorübergehend Essprobleme, meist bei der Umstellung vom Stillen auf Brei oder von Brei auf feste Nahrung. Doch Klara nahm rapide ab, ihr kleiner Körper hatte keine Reserven. Ihre Mutter wandte sich an ein Krankenhaus mit einer Abteilung für Essstörungen bei Kleinkindern. Wenn sich Kinder mehr als vier Wochen dem Essen verweigern, die Mahlzeiten sich über 45 Minuten hinziehen, ist professionelle Hilfe nötig, raten Experten.

Mehr als jedes zehnte Kind entwickelt in den ersten Lebensmonaten eine ausgeprägte Essstörung, die sogenannte Fütterstörung, eine frühkindliche Regulationsstörung. Doch dafür ist Klara zu alt. Mit drei Jahren befindet sie sich in der sogenannten Trotzphase, in der Kleinkinder ihre Grenzen ausloten. "Ein Kind kommt zwar mit eigenem Charakter und Temperament auf die Welt, aber es weiß nicht, wie die anderen Menschen auf sein jeweiliges Verhalten reagieren und muss sich ausprobieren", sagt Kinderpsychiaterin Rohde.

Essensverweigerung gehört zur Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes, heißt es in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie. Oft geht es bei Nahrungsverweigerung um kindliche Autonomie. Das Kind will seine Selbständigkeit behaupten. Das Schlachtfeld für die Machtkämpfe ist der Esstisch.

Klaras Mutter musste sich in der Klinik beim Essen mit der Tochter filmen lassen, so können Ärzte sehen, was sich am Tisch abspielt. Anschließend wurde das Video gemeinsam analysiert. Ein schmerzhafter Moment. "Ich habe alles falsch gemacht, es war beschämend für mich als Mutter."

Ein Gefühl, das Eltern der Psychologin Rohde oft schildern. Die Aufzeichnung sei wichtig, damit sich die Erwachsenen aus der Distanz sehen. "Essstörungen haben viel mit Interaktion zu tun", so Rohde. Eine Mutter habe beispielsweise ständig auf ihren Sohn eingeredet beim Essen, so dass der nur zuhörte anstatt zu essen. Manche Eltern versuchen, das Kind mit Spielzeug zum Essen zu bringen. Ebenfalls ein fataler Fehler, sagt Rohde. "Es ist schwer, so etwas wieder abzuerziehen."

"Hätten Sie bei so einem Anblick Appetit?"

Klaras Mutter, so dokumentiert es der Film auf erschütternde Weise, flehte regelrecht. Doch Klaras Wille, sie zu besiegen, schien größer als der Trieb zum Überleben. Keinen einzigen Bissen schluckte die Dreijährige während der Videoaufnahme.

Die Kamera zeigt: Klaras Mutter wird von ihrer Angst gelenkt. Man sieht sie angespannt, die Haltung regelrecht verkrampft, die Stirn von Sorgenfalten durchzogen, den Mund verkniffen, die Stimme überdreht. "Hätten Sie bei so einem Anblick Appetit?", fragt die 44-Jährige selbstkritisch.

Man sieht, wie sie beim Ringen mit der Tochter, die das Essen wegschubst, penibel darauf achtet, am Tisch eine Sauerei zu verhindern. So hat sie es auch zu Hause exerziert, gibt sie zu: Immer lagen Feuchttücher oder Servietten griffbereit. Dabei sollte jedes Kind ein Entwicklungsstadium durchlaufen, in dem es Essen anfassen und damit herumexperimentieren darf. Diese Phase, genannt "messie eating", sollte allerdings nur eine Zeitlang erlaubt werden.

Ein Kind muss lernen, dass es auch beim Essen Regeln gibt, die es einzuhalten gilt. Eine lautet: Eltern bestimmen, wann und was es zu essen gibt, das Kind bestimmt, wie viel es isst. Verweigert es die Nahrung, wird die Mahlzeit beendet, in der Hoffnung, das Kind hat beim nächsten Mal Hunger und langt kräftig zu.

Auch wenn Eltern ihre Ängste nicht verbalisieren, spürt das Kind ihre Sorge. "Kinder haben Zugang zu Ängsten und Wünschen ihrer Eltern, spüren instinktiv, wie es ihnen geht, ohne dass es ausgesprochen wird", sagt Psychiaterin Rohde. Daher rät das Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund auch vom ständigen Wiegen ab, weil das zusätzlichen Stress und Druck ausübe - auf Kind und Eltern. Selbst, wenn ein Kind nicht wisse, was eine Waage sei, könne es eine Verbindung herstellen, sagt Ärztin Rohde. Viele Therapeuten weigerten sich daher, Kinder zu wiegen. Eltern sollten das dem Kinderarzt überlassen. "Sonst werden sie ganz schnell zum Kontrolletti."

Klaras Mutter fühlt sich erstmals als Versagerin. Studium, Job - ihr gelang alles mit links, sagt sie. "Und dann bringe ich es nicht fertig, mein eigenes Kind zu versorgen?"

Sie hat sich wieder in ihrem Elternhaus einquartiert, weil Klara nur isst, wenn ihre Großmutter dabeisitzt. Demütigend sei das für ihre Tochter, sagt die 75-Jährige, "aber wir hoffen, es renkt sich schnell ein, und die beiden schaffen es bald wieder alleine".

"Es geht ums Überleben"

Verweigert ein Kind das Essen, wirkt sich das auf das gesamte Familiensystem aus. Plötzlich beherrscht das Thema Essen den Alltag. Kinderpsychiaterin Rohde empfiehlt daher Familientherapien, die alle einschließen, die mit am Tisch sitzen. Meistens gibt es mehrere auslösende Faktoren - intrapersonelle sowie familiäre.

Einer ist das Essverhalten der Eltern. Mütter, die zum Beispiel selbst essgestört sind, kontrollieren die Nahrungsaufnahme ihres Kindes auf besondere Art und Weise. Diejenigen, die besonders auf ihre Figur achten, forcieren oft, dass ihr Kind mehr als üblich isst.

Experten propagieren, dass die Familie Mahlzeiten gemeinsam einnimmt. Erziehen durch Vorleben: Das kindliche Essverhalten orientiert sich daran, was andere am Tisch essen. Das gilt allerdings auch in negativer Hinsicht: Ernähren sich die Eltern nur von Rohkost, wird das Kind keinen Gefallen an Fisch oder Fleisch finden.

Manche, die im frühen Kindesalter schlecht essen, bleiben ihr Leben lang schlechte Esser. Inwieweit sie häufiger an Bulimie oder Magersucht erkranken, ist bislang nicht untersucht. Gedanken, die Klaras Mutter in den Sinn kommen und die sie vorerst beiseite schiebt. "Im Moment geht es ums Überleben und um die Angst, wenn sie jetzt nichts isst, stirbt sie mir einfach so weg."

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