Fall Chantal Pflegeeltern - Rabeneltern?

Im Alter von elf Jahren starb Chantal an einer Überdosis Methadon. Die Pflegeeltern hatten die Heroin-Ersatzdroge im Haus, das Paar ist seit Jahren in Substitutionsprogrammen. Experten versuchen zu ergründen, wie das Mädchen ausgerechnet in diese Familie kam.
Von Simone Utler
Gedenken an Chantal: Blumen und Karten an Hamburger Schule

Gedenken an Chantal: Blumen und Karten an Hamburger Schule

Foto: Markus Scholz/ dpa

Hamburg - Jede neue Erkenntnis im Fall Chantal wirft weitere Fragen auf. Die Elfjährige starb an einer Methadon-Vergiftung. Als die Tragödie bekannt wurde, war die zentrale Frage: Woher hatte das Kind die Heroin-Ersatzdroge? Auf die Information, dass das Mädchen bei Pflegeeltern lebte, folgte die Frage nach den Lebensumständen. Nun wurde bekannt, dass die Pflegeeltern seit mehreren Jahren in Drogen-Ersatz-Programmen waren, mit Methadon substituiert wurden und entsprechende Tabletten im Haus hatten. Anlass für eine ganze Reihe Fragen.

Nach welchen Kriterien wurde Chantals Pflegefamilie ausgesucht? Wie intensiv hat das Jugendamt nach den Lebensumständen der Eltern geforscht? Wusste das Amt von der Drogensucht?

Prinzipiell liegt die Verantwortung für die Auswahl einer Pflegeperson in Hamburg beim sogenannten Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) des zuständigen Bezirksamts. "Die Auswahl ist wesentlich von der tatsächlichen Fallsituation sowie den Problemlagen der Familie und insbesondere des Kindes oder Jugendlichen abhängig", erklärt Nicole Serocka, Sprecherin der Hamburger Sozialbehörde. Wenn ein Kind eine Familie kenne oder ihm das Milieu vertraut sei und es deshalb dort leben wolle, werde dies berücksichtigt.

Bei der Eignungsprüfung stützt sich der ASD laut Serocka auf Standards, die von der Sozialbehörde festgelegt werden. Es gibt mehrere Gespräche und Hausbesuche, die Pflegepersonen müssen Führungszeugnisse vorlegen, eine Pflegeelternschule besuchen und einen Lebensbericht schreiben. "Dabei geht es nicht um einen tabellarischen Lebenslauf, sondern um eine formulierte Auseinandersetzung über das eigene bisherige Leben", so Serocka. Diese Berichte seien Grundlage für weitere Nachfragen und Gespräche mit dem Jugendamt.

Kein Pflegekind in Familie mit Suchtproblematik

Chantal lebte seit 2008 bei einer Pflegefamilie im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg. Ihr Pflegevater Wolfgang A. ist nach eigenen Angaben seit mehreren Jahren als Drogensüchtiger in einem Methadon-Programm, Pflegemutter Sylvia L. seit etwa zwei bis drei Jahren.

Noch ist unklar, ob das Paar bei der Überprüfung seiner Eignung auf seine Drogenvergangenheit angesprochen wurde, ob es die Mitarbeiter der Behörden anlog oder ob es eingeräumt hat, in einem Substitutionsprogramm zu sein.

Sollte dies der Fall sein, hätte Chantal nicht in die Familie kommen dürfen. "Ein Kind darf nach den Hamburger Richtlinien nicht in eine Pflegefamilie mit einer Suchtproblematik vermittelt werden", erklärte Behördensprecherin Serocka. Dies gelte auch für substituierte Pflegepersonen. Werde ein Kind von den Großeltern gepflegt - dies ist der Fall bei dem zweiten Pflegekind von A. und L., ihrer achtjährigen Enkelin - könne in Notsituationen und nach einer intensiven Abwägung der Umstände davon abgewichen werden.

"In 99 von 100 Fällen würde man Erwachsene in einem Substitutionsprogramm nicht als Pflegeeltern nehmen", sagt Sozialpädagoge und Erziehungswissenschaftler Klaus Wolf, Professor an der Universität Siegen mit dem Forschungsschwerpunkt "Aufwachsen in Pflegefamilien".

Bekannte oder fremde Pflegefamilie?

Prinzipiell gibt es zwei Wege, nach Pflegeeltern zu suchen. "In Deutschland wird überwiegend danach geschaut, welche Familie ist geeignet, ein Kind mit dessen Erfahrungshintergrund dauerhaft zu betreuen und der Herkunftsfamilie ohne Ressentiments gegenüberzutreten", erklärt Wolf. Dabei handele es sich meistens um fremde Familien. "Ungefähr zwei Drittel der Kinder in Deutschland werden so untergebracht." Dabei könne es durchaus schwierig sein, ein Kind aus seiner zerrütteten oder chaotischen Familie in eine vermeintlich heile Welt zu bringen. Wenn die Pflegeeltern das gut auffangen und das Kind dauerhaft in der neuen Familie bleibt, könne man mit diesem "Rettungsmodell" gute Erfolge erzielen, so Wolf. Wechselten die Kinder aber mehrfach zwischen Pflegefamilie, Herkunftsfamilie und eventuell Heim, sei das "ruinös".

Außerdem kann ein Pflegefamilie im Umfeld des Kindes gesucht werden. "Die Niederlande haben mit diesem Modell sehr gute Erfahrungen gemacht - wenn die Familie eng begleitet wurde", so Wolf. Lebe die Pflegefamilie im selben sozialen Milieu oder habe denselben Kulturhintergrund, seien für ein Kind die Übergänge weicher. Trotzdem sei aber zu überprüfen, ob die Pflegeeltern im Hinblick auf Finanzen, Psyche und Gesundheit in einer stabilen Situation seien.

In Deutschland leben Wolfs Forschungsgruppe zufolge rund 60.000 Kinder offiziell in fremden Familien, 75.000 in Heimen. "Wir schätzen, dass außerdem 15.000 bis 20.000 Kinder in familiären Pflegeverhältnissen leben, von denen die Behörden nichts wissen", sagt Wolf.

Habe ein Kind eine starke Abneigung gegen seine Umgebung und wolle mit dem ganzen Milieu nichts mehr zu tun haben, könne ein Umzug gut sein, sagt Carmen Thiele vom Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien e.V. (PFAD). "Aber wenn man ein acht- oder neunjähriges Kind gegen seinen Willen nach Jottwede verpflanzt, riskiert man, dass es mit dem nächsten Bus zurücktrampt", so die Soziologin.

Chantals Mutter, eine Alkoholikerin, war im Mai 2010 gestorben. Der 41 Jahre alte Vater nimmt laut Staatsanwaltschaft Ersatzdrogen, aber kein Methadon. Chantal lebte mit ihrer Pflegefamilie im selben Stadtteil, zu sechst in einer Vier-Zimmer-Wohnung. Die Wohnung soll verwahrlost gewesen sein, Chantal war dem vorläufigen Obduktionsergebnis zufolge aber gesund und altersgemäß entwickelt, es gab keine Anzeichen für Misshandlung oder Vernachlässigung. Wolfgang A. und Sylvia L. sind den Ermittlern bekannt, allerdings liegen die Delikte mindestens zwölf Jahre zurück. Ihre aktuellen Führungszeugnisse könnten tadellos sein.

Bei Drogenmissbrauch ist Herausnahme zwingend

Besteht in einer Familie der Verdacht auf Drogengebrauch, muss das nach Ansicht Thieles nicht unbedingt die Herausnahme des Kindes zur Folge haben: "Wenn ein Kind bei jeder Schwierigkeit aus einer Familie genommen wird, reißt das die Biografie in viele Stücke. Es können Narben bleiben." Die Soziologin betont aber: "Bei Drogenmissbrauch - also einem aktuellen Suchtverhalten mit dem entsprechenden Verlust an Alltagskompetenz - ist sehr wohl der Sachverhalt der Kindeswohlgefährdung gegeben und eine Herausnahme zwingend."

So tragisch Chantals Tod ist - für Klaus Wolf ist es ist "nicht die Spitze eines Eisbergs, sondern ein Einzelfall". Wenn es Probleme in Pflegefamilien gebe, seien die meist anderer Natur. Beispielsweise wenn ein Kind extreme Gewalt erlebt habe und die Pflegeeltern nicht ausreichend vorbereitet seien. "Es wäre ein Flurschaden für unsere Gesellschaft, wenn wir alle Pflegepersonen unter den Generalverdacht stellen würden, Rabeneltern zu sein", so Wolf.

Die Schlüsselfrage ist nach Ansicht des Erziehungswissenschaftlers nicht, wie die Eltern ausgesucht werden. "Die meisten Fehler passieren, wenn die Familien nicht eng genug betreut werden." Dabei gehe es mitnichten um eine engmaschige Überwachung - die betreuende Person müssen vor allem einen engen Kontakt zu dem Kind haben.

Was ist im Fall von Chantal falsch gelaufen?

Laut Sozialbehörde werden Pflegepersonen in Hamburg mindestens einmal innerhalb eines Jahres beraten - und damit auch kontrolliert. Im Einzelfall finden die Beratungen auch häufiger statt. Chantals Pflegefamilie wurde vom Hamburger Verbund Sozialtherapeutischer Einrichtungen (VSE) betreut. Der private Träger hat einen Kooperationsvertrag mit dem Bezirksamt Mitte über die Beratung, Unterstützung und Begleitung von Pflegefamilien in pädagogischen, finanziellen und rechtlichen Fragen. "Wir haben die Pflegefamilie beraten und regelmäßig Termine mit ihr gehabt", sagt Olaf Jänicke, der Leiter der VSE-Geschäftsstelle. Man habe die Akte der Familie nun an das Bezirksamt übergeben.

Die Deutsche Kinderhilfe sieht Anzeichen für ein eklatantes Versagen des Hamburger Jugendhilfesystems. "Dass Pflegekinder in die Familie von Drogenabhängigen geraten, ist ein krasser Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht des Jugendamts und entbehrt jeglicher Fachlichkeit", sagte der Vorstandsvorsitzende Georg Ehrmann.

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