Flüchtlinge aus der Ukraine Ein Bett in Berlin

Von Mykolajiw nach Berlin: Anna Kostiuchenko ist mit ihren Kindern Hals über Kopf aus ihrer Heimat geflohen
Foto: Serafin Reiber / DER SPIEGELDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Kurz vor Mitternacht sind sie am Ziel. Erschöpft, mit Rucksäcken und Taschen bepackt, stehen sie in der Tür: Anna Kostiuchenko mit ihren beiden Kindern, der 14-jährigen Lina und dem 8-jährigen Mischa. Sie sind geflohen aus Mykolajiw, einer Stadt im Süden der Ukraine, vier Tage haben sie für die knapp 1800 Kilometer bis nach Berlin gebraucht.
»Wir sind einfach nur froh, dass wir in Sicherheit sind«, sagt Kostiuchenko. Als sie am 24. Februar die Nachricht vom Kriegsbeginn hört, gerät die Physiotherapeutin in Panik. »Ich wollte meinen Mischa nicht aufwecken, ich wollte ihm nicht erzählen müssen, dass wir im Krieg sind«, sagt sie.
Der Krieg verändert alles im Leben von Anna Kostiuchenko. Den ganzen Tag über strömen Menschen in die Supermärkte, um sich mit Vorräten einzudecken. Die Nacht auf Freitag verbringt die Familie aus Angst in einem nahe gelegenen Bunker aus Sowjet-Zeiten. Am Tag darauf bekommt die Tochter starke Panikattacken, sie entscheiden sich für die Flucht. Anna Kostiuchenko besitzt weder einen Führerschein noch ein eigenes Auto, sie bittet daher ihren Ex-Mann, sie zu fahren. Freitagmittag machen sie sich auf den Weg – gerade noch rechtzeitig. »Einen Tag später wären wir nicht mehr aus der Stadt gekommen.«
Auch Mykolajiw soll kurze Zeit später unter Beschuss der russischen Armee gestanden haben, so erzählt es Anna Kostiuchenko. Ihre Freunde und Nachbarn würden seitdem fast ununterbrochen im Schutzbunker sitzen. Auf ihrer Reise gen Westen sehen sie Flugzeuge und Drohnen vorbeifliegen. Dienstagnacht stehen sie endlich im Flur eines Aparthotels in Kreuzberg, der Moritzplatz ist nicht weit.
In der Ukraine tobt der Krieg – und Deutschland erlebt ein zweites 2015. Mehrmals täglich rollen inzwischen Sonderzüge in den Berliner Hauptbahnhof, Busse mit Geflüchteten kommen an, Ehrenamtliche machen sich auf den Weg. Aktuell scheint die Lage unter Kontrolle, aber wie lange noch? Die Zahl der Schutzsuchenden steigt mit jedem Tag, den der Krieg in der Ukraine an Brutalität zunimmt.
Laut dem Berliner Senat strandeten allein am Mittwoch mit Zügen aus Warschau bis zu 4000 Menschen in der Hauptstadt. Das Tageshoch 2015 lag bei rund 1000 Personen. Die Hilfsbereitschaft in der Zivilbevölkerung ist enorm – und wird dringend benötigt.
»Einfach schlimm«
Florian Wichelmann hat das früh erkannt. Dem Berliner Immobilienunternehmer gehört Nena Apartments, eine Kette, die Hotelzimmer mit Küche zur Kurzzeitmiete anbietet. Anna Kostiuchenko und ihre Kinder sind die Ersten, die in einer seiner Wohnungen Unterkunft finden. Während Wichelmann am Abend auf die Familie aus der Ukraine wartet, klingelt immer wieder sein Telefon, eine Nachricht nach der anderen geht ein: Menschen, die Wohnungen anbieten möchten, genauso wie Menschen, die verzweifelt nach Unterkünften für Geflüchtete suchen.
Die Idee zu seiner Hilfsaktion kam Florian Wichelmann am vergangenen Sonntag. Im Radio hörte er von den neuesten Entwicklungen in der Ukraine. »Als Familienvater finde ich die Vorstellung, von heute auf morgen mit Kindern auf der Flucht zu sein, einfach schlimm«, sagt Wichelmann.
Aktuell hätten sie in seinem Unternehmen eine Auslastung der Zimmer von rund 95 Prozent. »Das heißt aber auch: fünf Prozent sind gerade frei«, sagt Wichelmann. Am Sonntagnachmittag postete er auf LinkedIn sein Angebot, sich um die Unterbringung Geflüchteter kümmern zu können – wer Kontakt zu geflüchteten Ukrainern habe, solle sich einfach bei ihm melden. »Ich dachte, dass wir vielleicht drei, vier, fünf Anfragen bekommen«, erzählt Wichelmann. Schon 2015 in der Flüchtlingskrise hatte er drei Wohnungen bereitgestellt. Doch dieses Mal ist die Dynamik eine ganz andere: Schon am nächsten Morgen haben mehr als 20.000 Menschen den Post gesehen.
Wichelmann erreichen mehrere Hundert Nachrichten, er kontaktiert andere Apart-Hotelbetreiber, mehr als ein Dutzend sind sofort bereit zu helfen. Innerhalb kürzester Zeit setzen sie gemeinsam eine Website auf, um die Anfragen zu koordinieren, Menschen und Betten zueinander zu bringen. Mittlerweile haben sich bundesweit mehr als 33 Unternehmen der Initiative EveryBedHelps angeschlossen, zusammen haben sie rund 600 freie Wohnungen im Angebot. Schon nach fünf Tagen konnten rund 200 Apartments an 450 Geflüchtete vermittelt werden.
Eine Einzimmerwohnung wie die für Anna Kostiuchenko kostet eigentlich rund 100 Euro pro Nacht. 2015 habe der Bund im Nachhinein finanzielle Unterstützung geleistet und die Kosten für die Unterbringung der Flüchtlinge gedeckt, sagt Wichelmann. Der 41-Jährige vermutet, dass es auch dieses Mal wieder staatliche Hilfe geben werde, aber in der aktuellen Lage sei ihm das erst einmal egal.
Familie Kostiuchenko kann mindestens bis Ende März kostenlos in Wichelmanns Wohnung bleiben. Danach sind die Wohnungen vermietet. Aktuell laufen Gespräche mit Wohnungsgesellschaften wie Wunderflats , die Kapazitäten für eine längerfristige Unterbringung haben.
Frische Wäsche und ein Bett
Viele Geflüchtete landen erst einmal in Berlin. Auch im Vilhelm 7 in Kreuzberg ist eine Familie untergekommen, eine Mutter mit ihrer 16-jährigen Tochter aus Odessa. Sie brauchten anfangs vor allem frische Wäsche und ein Bett. Yvonne Kevin, die Betreiberin des Hauses, nahm sie in Empfang: »Sie waren vollkommen übermüdet und am Ende ihrer Kräfte.« Kevin hat sich ebenfalls Florian Wichelmanns EveryBedHelps-Initiative angeschlossen. Bevor sie in der Hauptstadt ankamen, hätten die Frau und ihre Tochter zwei Nächte lang kein Auge zu getan, sie seien viel gelaufen.
Doch die Hilfe für die Geflüchteten in dem kleinen Berliner Boutique-Hotel ist nur der Anfang. »Ich kann ein Bett herrichten«, sagt Kevin, »doch wie es in den nächsten Wochen weitergeht, weiß noch keiner«. Alles, was die Geflüchteten brauchen, teilt die Betreiberin in einer ihrer vielen Chatgruppen.
Ein Nachbar sei noch nachts, als ihre ersten Gäste ankamen, in die Drogerie gelaufen und habe dort Unterhosen, Tampons, Binden, Shampoo und andere Kosmetikartikel für 100 Euro gekauft. Eine Nachbarin habe den Frauen etwas zu Essen gekocht, Kevin selbst habe ihre Kleidung gewaschen, nachdem sie sie aufs Zimmer gebracht hatte.
Programmieren hilft
Helfer und Ehrenamtliche können sich heute über die sozialen Medien so einfach und vor allem so schnell vernetzen wie noch nie. Zu Beginn der Coronapandemie wurden Nachbarschaftshilfen aus dem Boden gestampft, um die Einkäufe für ältere Menschen zu organisieren. Bei der Flut im Sommer 2021 koordinierten private Hilfen den Einsatz Tausender freiwilliger Helfer bei den Hochwasser-Aufräumarbeiten. Auch in der aktuellen Krise scheint die digitale Freiwilligenarmee wieder anzuspringen. Bundesweit.
Lukas Kunert ist einer von denen, die mit anpacken. »Meine Frau kommt aus Russland, wir haben uns in der Ukraine kennengelernt«, erzählt der Unternehmer aus Fulda. Seine Firma hilft Schulklassen und Initiativen, ihr Geld zu verwalten. Als der Krieg beginnt, beschließt Kunert, eine Unterkunftsvermittlung zu starten. »Programmieren können wir ja«, sagt der 30-Jährige. Eine Skizze beim Mittagessen, ein Anruf bei den Programmierern: Nach wenigen Stunden geht unterkunft-ukraine.de online.
Innerhalb einer Woche tragen sich mehr als 95.000 Privatpersonen und Unternehmen bei der Plattform ein, insgesamt werden 213.000 Betten gemeldet. Viel mehr als aktuell noch benötigt wird. »Zurzeit ist das Angebot tatsächlich noch größer als die Nachfrage«, sagt Kunert, »aber das ändert sich schnell.« In den vergangenen Tagen sei die Zahl der Anfragen für eine Unterkunft »sehr dynamisch« gestiegen.
Hilfe für die Menschen in der Ukraine – hier können Sie spenden
Spendenkonto: Commerzbank
IBAN: DE65 100 400 600 100 400 600
BIC: COBADEFFXXX
Onlinespenden: aktionsbuendnis-katastrophenhilfe.de
Im Aktionsbündnis Katastrophenhilfe haben sich Caritas international, Deutsches Rotes Kreuz, Unicef und Diakonie Katastrophenhilfe zusammengeschlossen.
Für Kunert ist die Plattform ein Weg aus der Schockstarre. Er möchte, wie viele, den Geflüchteten schnell und ganz pragmatisch helfen. Doch es stellen sich auch schwierige Fragen: Datenschutz, Sicherheit der Plattform, Vertraulichkeit bei den Übernachtungsangeboten. »Gerade bei den Schutzsuchenden geht es um hochsensible Informationen, die wir mit größter Sorgfalt behandeln müssen.«
Stresstest für die Plattform
Seit Dienstag läuft der Stresstest für Kunerts Plattform. Inzwischen hat sich der Mann aus Fulda mit Jörg Richert zusammengetan, Gründer der Karuna-Sozialgenossenschaft. »Wir kamen an die Grenze des Virtuellen – wir mussten vor Ort sein.« Gemeinsam beschlossen sie, allen, die sich in Berlin bei unterkunft-ukraine.de angemeldet hatten, eine Mail zu schreiben – mit der dringenden Bitte, zum Berliner Hauptbahnhof zu kommen. In einer Nebenhalle finden dann die »Matchings« statt.
Wie das funktioniert, konnte man am Mittwochabend bei der Ankunft des Eurocitys aus Warschau beobachten. Mit Megafon und einer blauen Leuchtjacke stand Jörg Richert umringt von Dutzenden Helfern in der Halle. »Achtung, eine große Familie mit zehn Kindern sucht einen Schlafplatz.« Nach und nach und mit der Hilfe von Übersetzern finden die Leute zusammen. »Ein großes Glücksgefühl«, sagt Wichert. Er weiß, dass sie ohne die Datenbank von Kunert nie so effektiv wären.
Doch Hilfe formiert sich auch in anderen deutschen Städten. Dresden zum Beispiel bündelt auf seiner Internetseite Informationen zur Hilfe von Geflüchteten und bietet zusätzlich Kontakte zu Vereinen und Initiativen für Spenden an. Die Stadt Stuttgart hat einen »Koordinierungsstab Ukraine« eingerichtet, der die Arbeit zwischen Verwaltung und Zivilbevölkerung abstimmen soll. In Karlsruhe sucht die Stadt nach Personen, die Ukrainisch sprechen können oder Geflüchteten eine Unterkunft bereitstellen können.
Alle Helfer bereiten sich darauf vor, dass mit jedem Tag mehr Menschen kommen werden. Die größten Herausforderungen, das wissen alle, stehen erst noch bevor.