Flüchtlinge in Deutschland Land der namenlosen Kinder

In Deutschland leben nach Schätzungen von Flüchtlingsräten Hunderte Kinder ohne Namen. Die Existenz auf dem Papier wird dem Nachwuchs von Flüchtlingen häufig verweigert, um die Eltern unter Druck zu setzen. Doch die Praxis verstößt gegen internationales Recht.
Kind in einer Münchner Asylunterkunft: Lauter kleine Niemande

Kind in einer Münchner Asylunterkunft: Lauter kleine Niemande

Foto: DDP


Münster - In der einen Hand hält der kleine Junge einen rosa Plüschhasen, in der anderen ein blau-gelbes Plastikmonster, das man zu einem Ei zusammenfalten kann. Das haben ihm Polizisten geschenkt. Einen Namen hat der Dreieinhalbjährige nicht. Seine Mutter nennt ihn - seit er in einem Krankenhaus in Münster zur Welt gekommen ist - Florian*. Ein deutscher Name sollte es sein, kein typischer Roma-Name, um zu zeigen, dass Florian und auch sie, Danijela*, hierher gehören und nicht in den Kosovo, wo sie herkam.

Aber Florian darf nicht Florian heißen. Das Standesamt verweigert ihm die Geburtsurkunde. Der Grund: Mutter Danijela kann selbst keine Dokumente vorlegen, weder einen Pass, noch eine eigene Geburtsurkunde. Auf dem Papier gibt es Florian deshalb bis heute nicht. Danijela ist entsetzt. Ihr Sohn sei doch da, sichtbar, greifbar. Warum kann man ihr das nicht bescheinigen? "Was passiert, wenn er größer wird? Ist es dann überhaupt mein Kind?" Florian würde gern in den Kindergarten gehen. Doch niemand nimmt ihn. Auch Kindergeld gibt es nicht. "Überall wollen sie die Urkunde sehen", sagt Danijela. Eine Urkunde, die es nicht gibt.

Als Danijela 1999 mit ihren Eltern dem Bürgerkrieg im Kosovo entflieht, ist sie 14 Jahre alt. Die Familie lässt alles zurück, auch ihre Dokumente. Als ihre Eltern sich drei Jahre später entschließen, in ihr Land zurückzukehren, bleibt Danijela in Deutschland. Sie ist hochschwanger, will ihr Kind nicht im Chaos des Kosovo zur Welt bringen. Hier fühlt sie sich sicher. In Deutschland, so meint die junge Frau, gibt es Sicherheit und Normalität. Doch für Florian gibt es noch keine Normalität, nicht einmal einen offiziellen Namen.

Namenlose Kinder von Flüchtlingen und Asylbewerbern wie Florian gibt es Hunderte, wenn nicht Tausende in Deutschland. Allein in der Hauptstadt, so schätzt Georg Classen vom Berliner Flüchtlingsrat, sind es weit mehr als 150. Viele von ihnen leben wie Florian seit Jahren ohne Identität. Ohne Registrierung gibt es auch keine Anmeldung beim Einwohnermeldeamt, kein Kindergeld, kein Erziehungsgeld und in einigen Fällen auch keine Sozialhilfe. Auch eine Krankenversicherung kann ohne Geburtsurkunde nicht abgeschlossen werden. Und ohne Kinderausweis können die Kinder auch das Land nicht verlassen. Sie sind faktisch staatenlos, und sitzen in der Bundesrepublik fest.

Nach internationalem Recht muss jedes Kind unverzüglich nach seiner Geburt in ein Register eingetragen werden - mit Namen. Erst damit werden Existenz und Identität eines Neugeborenen anerkannt. "Die Registrierung ist besonders auch deshalb wichtig, um Kinderhandel und Prostitution vorzubeugen", erklärt Anna Laumeier von der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender (GGUA) in Münster. "Sonst verliert sich irgendwann von den Kindern jede Spur." Können oder wollen aber Eltern ihre eigene Identität aufgrund fehlender Dokumente nicht nachweisen, gilt auch die Identität des Neugeborenen als nicht feststellbar. Schließlich belegt eine ordentliche deutsche Geburtsurkunde die eigene Abstammung, Namen und Herkunft der Eltern. Ein Teufelskreis.

"Beweisen Sie mal, dass Sie lebendig sind"

Die Standesbeamten sind verpflichtet, die Angaben der Eltern zu überprüfen, viele Flüchtlingsfamilien - wie die von Danijela - können aber die nötigen Nachweise nicht erbringen. Den wenigsten gelingt es, ihre Papiere bei der Flucht aus einer Krisenregion zu sichern. Für Menschen, die aus politischen Gründen geflohen sind, ist es darüber hinaus unmöglich, sich - einmal in Deutschland angekommen - an ihre Heimatbotschaft zu wenden. Dass die Flüchtlinge unter einem sogenannten Beweisnotstand leiden, hat auch die Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt.

Allerdings liegt es im Ermessen des einzelnen Beamten zu entscheiden, ab wann die Identität der Eltern als gesichert gilt. "Es gibt für das Problem keine bundeseinheitliche Regelung", sagt Rolf Paschen, Vizepräsident des Bundesverbandes der Standesbeamten. Die Beamten handeln in einer Grauzone, entschieden wird von Einzelfall zu Einzelfall. Einigen Standesbeamten genügt ein abgelaufener Reisepass, um den Namen und die Herkunft von Mutter und Vater zu bestätigen, andere sind strikter. Die Beurkundungspraxis werde zunehmend strenger gehandhabt, klagt Classen. Das Ergebnis sind viele kleine Niemande in Deutschland. "Beweisen Sie mal, dass Sie lebendig sind, wenn Sie keine Urkunde besitzen", sagt Dieter Hahnel, Sprecher des Standesbeamten-Verbandes.

Das Problem hat auch die Uno erkannt: Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) pochte deshalb vor zwei Jahren auf die Pflicht Deutschlands, neugeborene Kinder von Asylsuchenden und Flüchtlingen zu registrieren. Wird die Beurkundung verweigert, so besteht nach UNHCR-Ansicht die Gefahr, dass einem Kind die in der Menschenrechtskonvention verankerten Rechte verwehrt bleiben. In einer Erklärung hierzu heißt es: "Unzureichend ist nur die Eintragung eines Vornamens sowie die Erteilung einer Ersatzbescheinigung zur Vorlage bei Behörden, da diese nicht Teil des staatlichen Registers ist. Die Eintragung kann auch nicht bis zur Beibringung zusätzlicher Dokumente zurückgestellt werden."

Auch nach deutschem Recht geht das zumindest nur vorübergehend. Steht die Identität der Eltern nicht fest, kann die Eintragung ins Geburtsregister danach zwar zurückgestellt werden - aber nur für angemessene Zeit. Dann, so betont die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck, im aktuellen Bericht über die Lage der Ausländer in Deutschland, muss in jedem Fall eine Urkunde ausgestellt werden. Doch was angemessen ist, darüber gehen die Meinungen offensichtlich auseinander.

Standesämter als Hilfsausländerbehörden

Um dem Problem Rechnung zu tragen, wurde im April dieses Jahres die Dienstanweisung für Standesbeamte verändert: Ein Baby muss demnach eingetragen werden, auch wenn der Eintrag lückenhaft bleibt. Ein Vermerk soll dann darauf hinweisen, dass Staatsangehörigkeit und Name von Eltern und Kind nicht hinreichend festgestellt werden konnten. Das soll verhindern, dass die Beurkundung gänzlich verweigert wird. "Diese Vorschrift ist ein Fortschritt für das Verfahren", sagt Stefan Telöken, Sprecher des UNHCR in Deutschland. Nach der Erfahrung des Berliner Flüchtlingsanwaltes Dirk Siegfried gibt es jedoch trotz der neuen Anweisung noch immer Fälle, in denen nichts ausgestellt wird: "Der neue Zusatz ist problematisch. Es ist quasi so, als ob die Standesämter den anderen Behörden damit sagten: 'Wir weisen euch darauf hin, dass es Probleme geben kann' - in der Folge gibt es die dann auch."

Viele Flüchtlinge kooperieren nicht bei der Beschaffung ihrer notwendigen Dokumente. Wenn etwa Asylbewerber, deren Antrag abgelehnt worden ist, sich um ihre Papiere bemühen, beschleunigen sie so ihre eigene Abschiebung - denn solange ihre Herkunft nicht bekannt ist, gibt es auch kein Abschiebeziel. Auch Danijela ist nur geduldet. Hätte sie gültige Papiere, müsste sie Deutschland verlassen. Aber auch eine unbegründete Weigerung der Eltern, Dokumente vorzulegen, darf laut UNHCR keinesfalls "mit der Nichtregistrierung oder unzureichenden Registrierung" ihrer Kinder sanktioniert werden.

Genau das jedoch passiert in deutschen Standesämtern häufig. Beispiel Rheine: In der nordrhein-westfälischen Stadt gibt es derzeit acht Kinder, deren Geburt bisher nicht beurkundet worden ist. Aus ihren Beweggründen machen die Behörden auch kein Geheimnis. "Es handelt sich um eine Sanktion für die Verweigerung mitzuarbeiten", erklärt der verantwortliche Ordnungsdezernent des Kreises Steinfurt, Michael Sommer. Anwalt Siegfried hat dafür kein Verständnis: "Die Standesämter spielen sich allzu oft als Hilfsausländerbehörden auf."

Leidtragende sind dann die Kinder der Flüchtlinge. Florian wartet seit bald vier Jahren auf seine Geburtsurkunde. In zwei Jahren will er zur Schule gehen - wenn er bis dahin nachweisen kann, dass es ihn gibt.


* Namen von der Redaktion geändert.

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