Unicef-Bericht Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge verfünffacht sich

Mary* aus Nigeria
Foto: UNICEF/ GilbertsonMary* war 17, als sie Nigeria verließ, auf der Suche nach einem Leben mit Perspektive. Auf der Flucht wurde sie Opfer eines Menschenhändlers. Der versprach ihr, Kosten in Höhe von 25.000 Euro vorzustrecken und sie in Sicherheit zu bringen.
In Libyen hielt ihr vermeintlicher Helfer sie jedoch mehr als drei Monate in Gefangenschaft und missbrauchte sie: "Er sagte zu mir, wenn ich nicht mit ihm schlafe, würde er mich nicht nach Europa bringen. Und dann vergewaltigte er mich." Marys Geschichte ist nur eine von vielen ähnlich traumatischen Erfahrungen, die ein aktueller Unicef-Bericht dokumentiert.
Darin befasst sich das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen ausführlich mit den Risiken, denen Kinder und Jugendliche weltweit auf Flucht- und Migrationsrouten ausgesetzt sind. Und mit den Motiven der Heranwachsenden, sich auf den Weg zu machen.

Zentrale Ergebnisse des Reports sind:
- Immer mehr Kinder und Jugendliche sind allein als Flüchtlinge oder Migranten unterwegs. Weltweit hat sich demnach die Zahl der unbegleiteten und von ihren Familien getrennten Minderjährigen in den Jahren 2015 und 2016 im Vergleich zu 2010 und 2011 fast verfünffacht. Wurden damals noch etwa 66.000 in 80 Ländern registriert, waren es in den vergangenen beiden Jahren rund 300.000.
- Allein in Europa stellten etwa 170.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in den Jahren 2015 (104.000) und 2016 (66.000) einen Antrag auf Asyl. Im selben Zeitraum wurden 100.000 unbegleitete Kinder und Jugendliche an der Grenze zwischen Mexiko und den USA aufgegriffen.
- Immer mehr minderjährige Flüchtlinge und Migranten weichen auf extrem gefährliche Routen aus. Da es kaum legale Wege gibt, um Landesgrenzen zu überqueren, sind sie auf die Hilfe von Schleusern und Menschenhändlern angewiesen.
- Je länger Kinder und Jugendliche auf Migrations- und Fluchtwegen unterwegs sind, desto größer ist die Gefahr, Opfer von Menschenhandel, Prostitution und anderen Formen der Ausbeutung zu werden. Verzögerungen führen oftmals dazu, dass ihnen das Geld ausgeht und sie nicht wissen, wovon sie leben sollen.
- Die Gründe für die Flucht sind vielfältig: Gewalt, bewaffnete Konflikte, Verfolgung, Angst vor Kinderheirat, Genitalverstümmelung oder Zwangsrekrutierung, aber auch vor den Folgen des Klimawandels und Naturkatastrophen, vor Armut oder Diskriminierung.
"Jedes einzelne Kind, das sich allein auf die Suche nach einer neuen Heimat macht, ist eines zu viel", sagt Justin Forsyth, stellvertretender Exekutivdirektor von Unicef. "Skrupellose Schleuser und Menschenhändler nutzen die Verletzlichkeit der Mädchen und Jungen aus. Sie helfen ihnen über die Grenzen, nur um sie wie Sklaven zu verkaufen oder zur Prostitution zu zwingen."
Karim aus Afghanistan ging auf seinem Weg nach Europa das Geld aus. Dem Unicef-Bericht zufolge schuftete er acht Monate lang in einer türkischen Textilfabrik - bis zu 15 Stunden täglich, sechs Tage die Woche. Dann hatte er 3000 Euro zusammen und konnte seinen Weg fortsetzen.
"Wenn du versuchst zu fliehen, erschießen sie dich"
Aimamo und sein Zwillingsbruder seien in Libyen gezwungen worden, zwei Monate lang auf einer Farm zu arbeiten, um ihre Schleuser zu bezahlen, heißt es in dem Bericht. Aimamo fühlte sich ähnlich wie ein Sklave: "Wenn du versuchst zu fliehen, erschießen sie dich. Wenn du eine Pause machst, schlagen sie dich."
"Kinder und Jugendliche auf der Flucht und in der Migration haben ein Recht auf besonderen Schutz und Hilfe - unabhängig von ihrer Nationalität und ihrem Aufenthaltsstatus", sagt Christian Schneider, Geschäftsführer von Unicef Deutschland. "Doch tatsächlich werden diese Rechte immer wieder ignoriert." Deshalb gehöre das Schicksal dieser Mädchen und Jungen auf die Agenda des G7-Gipfels Ende Mai in Italien.
In einem Sechs-Punkte-Plan zum Schutz vor Ausbeutung und Gewalt fordert Unicef unter anderem, "dass die sicheren und legalen Wege der Migration und der Flucht für Kinder" erweitert werden. Die Inhaftierung von geflüchteten Kindern müsse aufhören. Alle minderjährigen Flüchtlinge müssten Zugang zu Bildung und Gesundheitsvorsorge haben. Zudem müssten die Ursachen für die Flucht bekämpft werden.
Als Mary endlich auf einem Boot im Mittelmeer saß, mussten sie und alle weiteren Insassen von der italienischen Küstenwache gerettet werden. Mittlerweile lebt sie in Italien in einer Unterkunft für Opfer sexueller Ausbeutung. Das Ende ihrer schrecklichen Erlebnisse sei das jedoch noch nicht: "Jetzt kommen die Leute, die für meine Reise bezahlt haben, zu meiner Mutter", sagt Mary. "Sie haben sie gefesselt und gedroht, ihr etwas sehr Schlimmes anzutun, wenn ich nicht bezahle."
*Name geändert